Steinreich in Einsiedeln
Arthur Baschnagel war es nicht in die Wiege gelegt, dass er nun buchstäblich jeden Stein der barocken Klosteranlage Einsiedeln kennt. Es war aber ein Glücksfall.

Nach einem Gespräch mit Arthur Baschnagel schauen die Fassaden vieler Bauwerke fleckig aus. Das Zürcher Fraumünster hat einen grünen Streifen, und die Fassade der Klosterkirche in Einsiedeln, die ist ein Flickenteppich. Auch der Begriff Original wird schwammig. Vor dem Gespräch mit Arthur Baschnagel aber waren all diese Steinfassaden noch eintönig grau. So wie die beiden Steinfiguren, an denen er gerade arbeitet.
Arthur Baschnagel ist seit 1983 Steinmetz in der Werkstatt des Klosters Einsiedeln. Vor ihm stehen zwei etwas kokett dastehende Damen mit Blumenstrauss, womöglich Allegorien für die Jugend. Rechts steht das Original, links seine Kopie. Es handelt sich um die letzte Arbeit, die Baschnagel als Klostersteinmetz in Angriff genommen hat. Denn seine Pensionierung steht an.
Dass er dereinst buchstäblich fast jeden Stein in der riesigen Anlage des Klosters Einsiedeln kennen wird, war ihm nicht in die Wiege gelegt. Baschnagel, Jahrgang 1954, ist im Stadtzürcher Quartier Riesbach aufgewachsen. Die Lehre machte er in der Metallindustrie, doch in den unruhigen Achtzigern verspürte er den Wunsch nach einer kreativeren Arbeit. Er interessierte sich zuerst fürs Holzschnitzen, landete aber schliesslich bei einem Steinbruch- und Steinmetzunternehmen in Bäch im Kanton Schwyz. Damit hatte er, für ihn selbst überraschend, sein Material gefunden. «Mir ging eine neue Welt auf.»
Die Farbe des Steins
Wenn Baschnagel über Steine spricht, meint er in der Regel Sandstein. Edlere Varianten wie Marmor findet er eher langweilig und fad. «Sandstein aber lebt. Und ist vor allem aus unserer Region.» Er füllt Wasser in einen Kessel und beginnt verschiedene Steinplatten zu befeuchten. Jetzt sieht man, was er bereits zuvor behauptete: «Bächer Stein ist grünlich.» Deswegen habe das Fraumünster oben einen grünen Streifen. «Da haben die Steinmetze beim Weiterbau Sandstein vom ‹falschen› Steinbruch verwendet.»

Gräulich-bläulich schimmert dagegen der Uznaberger Sandstein, der zu den Bollinger Sandsteinen gehört. Von diesen um Bollingen bei Rapperswil-Jona SG gelegenen, heute aufgelassenen Steinbrüchen wurden wahrscheinlich seit über tausend Jahren Steine gebrochen und verschifft. Dieser wurde über die Jahre hinweg für viele bedeutende Bauwerke verwendet: die Stiftskirche St. Gallen, den Hauptbahnhof Zürich.
«Dieser Stein ist grünlich, aber anders grünlich. Eher pastellgrünlich.»
Weil es sich hier um verschiedene kleinere, in der Region verstreute Steinbrüche handelt, unterscheiden die Fachleute nach dem Abbauort. Für seine Kopie der Dame mit dem Blumenstrauss hat der Klostersteinmetz Bollinger Lehholz-Sandstein mit eher bräunlicher Färbung verwendet.
Er seufzt, denn diese Wahl ist nur die zweitbeste Lösung. Das barocke Original des umtriebigen Einsiedler Bildhauers Johann Baptist Babel ist, wie die Hauptfassade des Klosters Einsiedeln, aus Etzel-Sandstein. Der Etzel-Steinbruch unweit von St. Meinrad wurde aber in den 1960er-Jahren stillgelegt. «Dieser Stein ist grünlich, aber anders grünlich. Eher pastellgrünlich.»
Ein Mönch als Chef
Nach Einsiedeln kam Arthur Baschnagel, als sein Arbeitgeber in Bäch einen Auftrag des Klosters erhielt. In der Steinhauerei des Klosters arbeiteten damals zwei ältere Herren. Der Mönch, der für die Klosterwerkstätten zuständig war, freute sich, dass der junge Mann sein Interesse bekundete, beim Kloster zu arbeiten. Das Kloster als Arbeitgeber? Ein Mönch als Chef? «Das war durchaus Thema in meinen Überlegungen.»
Allerdings sei er katholisch aufgewachsen – das Kloster Einsiedeln habe ein hohes Prestige in seiner Familie gehabt. «Einsiedeln war der typische Erstkommunionsausflug für Zürcher Katholiken.» Dass er damals zugestimmt habe, sei einer der guten Entscheide in seinem Leben gewesen, sagt er.
«Wenn der Mörtel bei zu niedriger Temperatur verarbeitet wird, ändert sich der Farbton.»
Zu den eigentlichen Steinmetzarbeiten kamen bald neue Herausforderungen, beispielsweise bei der grossen Kirchenrestaurierung, wo Fehlstellen im Sandstein mit Mörtel ausgeflickt wurden. Am Anfang habe er viel «gepröbelt», weil man damals insbesondere das Verhalten des Mörtels noch nicht so gut kannte. Wie verändert der sich mit der Zeit? Wie treffe ich mit dem Mörtel die Körnung und die Farbe des Steins? Wie ist es mit der Temperatur? «Wenn der Mörtel bei zu niedriger Temperatur verarbeitet wird, ändert sich der Farbton.»
Später, als wir vor der Hauptfassade der Klosterkirche stehen, kann Baschnagel Steinquader für Steinquader einer Herkunft zuordnen. Und weil die verschiedenen Quader bei verschiedenen Renovationen verwendet wurden, schwingt gleich die ganze Baugeschichte dieses Hauptwerkes der süddeutschen Barockarchitektur mit.
Die bräunlich patinierten Steine stammen von der Renovation von 1949, die gräulichen sind aus neuerer Zeit. Und tatsächlich, wie man beim Weintrinken mit einem Weinkenner zu ahnen beginnt, was dieser meint, wenn er von Leder, Brombeeren oder Tabak spricht, wird die graue Steinfassade der Klosterkirche plötzlich ein Flickenteppich.
Gestapelte Damen
Der Klosterplatz mit dem Marienbrunnen und dem Arkadenhof ist der zweitgrösste Kirchenvorplatz Europas – nach dem Petersplatz in Rom. Derzeit sind hier Bauarbeiten im Gang. Baschnagels letztes Werk, die Kopie der Dame mit dem Blumenstrauss, wird hier zu stehen kommen. Im Kreis von 23 weiteren allegorischen Figuren. Hofbildhauer Babel wurde 1746 vom damaligen Fürstabt Niklaus II. beauftragt, gegen dreissig Steinskulpturen für den Klosterplatz zu schaffen.

Da sie stark verwittert waren, wurden sie vor Jahrzehnten entfernt und in der alten Metzgerei neben der Klosterwerkstatt gelagert – gelagert ist beschönigend. «Sie wurden dort gestapelt», sagt Baschnagel. Die Mönche seien lange Zeit erstaunlich wenig an der historischen Substanz der Klostergebäude interessiert gewesen, fährt er fort. «Ihnen war es bei Renovationen oder Reparaturen wichtiger, dass etwas praktisch oder auch nicht zu teuer ist.»
Das sei anders, wenn ein denkmalgeschütztes Gebäude nur noch museal genutzt werde. «Das Kloster aber muss ja noch funktionieren und deshalb in vielen Belangen mit der Zeit gehen.» So seien im Laufe der Jahrhunderte Kopien angefertigt und die schadhaften Originale einfach entsorgt worden.
Dem Original auf der Spur
Die Dame mit den Blumen lag zerbrochen am Boden, die Erosion hatte die Formen stark verwittert, und gewisse Teile kamen erst später zum Vorschein. Deshalb musste er sie zuerst aufmodellieren, bevor er davon eine Kopie erstellen konnte. Dabei werden die Fehlstellen mit Steinersatzmörtel aufgebaut. «Das ist nur seriös machbar, wenn man die Eigenheiten und auch den Hieb des ursprünglichen Künstlers sehr gut kennt – man muss mit ihm fühlen.» Den Hieb? «Der Stil eines Künstlers ist oft daran zu erkennen, wie er die verschiedenen Werkzeuge verwendet.»

Er nähert sich einem Original an, indem er Bleistiftzeichnungen davon anfertigt. Manche hängen in der Werkstatt an der Wand. Er nimmt ein Blatt herunter, bläst das feine Steinmehl, das alles überzieht, weg und zeigt, wie Schatten und Licht spielen. «Beim Zeichnen komme ich dem Charakter eines Werkes und seines Urhebers auf die Spur.»
In der Bauhütte des Klosters arbeiten rund 25 Mitarbeiter aus vielen handwerklichen Disziplinen oft Hand in Hand: Schreinerei, Malerei, Schlosserei, Elektrotechnik und eben Steinwerkstatt. Die Arbeit des Steinmetzen ist vielfältig. Er fertigt überlebensgrosse Heiligenfiguren an, repariert aber auch wacklige Steingeländer, moosige Fenstersimse oder abgelaufene Treppenstufen. Auch dort brauche es sorgfältige Arbeit, damit das einheitliche Bild nicht gestört werde.
Gespür und Demut
Baschnagel sagt: «Wenn man in einer historisch so bedeutenden Anlage zu Werke geht, bedeutet das eine besondere Verantwortung und verlangt auch Demut.» Wie äussert sich das konkret? «Zuerst das Hirn einschalten, bevor wir die Werkzeuge ansetzen.» Man müsse das Gespür entwickeln, wann die Denkmalpflege einzubeziehen sei.
Doch nun drängt es ihn zurück an die Arbeit. Er setzt gegen den allgegenwärtigen Steinstaub einen Zeitungshut aufs Haar und beginnt mit dem Beizeisen die Nase seiner Dame mit den Blumen zu bearbeiten. Danach muss noch der Blumenstrauss aus dem Stein gehauen werden. Dann ist sie bereit, um statt des Originals in Wind und Wetter auf der Balustrade zu stehen. Dann ist auch Arthur Baschnagels Zeit als Klosterbildhauer abgelaufen.

Doch Steinmetz bleibt er. Er hat sich in Einsiedeln eine eigene Werkstatt eingerichtet, in der er nicht Kopien, sondern Originale herstellt. Nicht barocke Damen aus dem Stein haut, sondern konstruktive Formen, Möbiusbänder oder Kugelschnitte, die den Sandstein weich wie Wachs scheinen lassen. «So gefällt er mir am besten.»
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