Sterben die Atomkraftwerke aus?
Weltweit werden weniger Atomkraftwerke gebaut. Ein Bericht schätzt sie als ungeeignet für den Klimaschutz ein.

Am 20. Dezember 2019 gehört auch die Schweiz zu jenen Staaten, die ein Atomkraftwerk abschalten müssen. Das AKW Mühleberg geht vom Netz und gehört somit zu den fünf Atomkraftwerken, die seit dem letzten Jahr geschlossen wurden. Zwei stehen in Russland, zwei in den USA. Dafür gingen in der gleichen Zeitspanne neun Reaktoren ans Netz, sieben davon in China, zwei in Russland. Die jährliche Stromproduktion aus Atomkraftwerken stieg 2018 gegenüber dem Vorjahr um 2,4 Prozent – hauptsächlich wegen des Ausbaus in China.
Es macht den Anschein, als würde sich die Atomindustrie von ihrer Baisse allmählich wieder erholen. Den höchsten Anteil an der globalen Stromproduktion erreichten die Atomkraftwerke im Jahr 1996 mit einem historischen Maximum von 17,5 Prozent. Seither sank der Anteil stetig bis auf rund 10 Prozent. Doch hinter den Zahlen steckt nicht wirklich ein Revival der Atomindustrie. Das zeigt die minutiös aufgearbeitete Statistik über die weltweite Nuklearindustrie, die gestern in einem über 300 Seiten starken Bericht veröffentlicht wurde.
Keine Umkehr des Trends
«Die Anzahl der betriebenen Atomkraftwerke in der Welt ist im vergangenen Jahr bis Mitte 2019 um vier auf 417 gestiegen. Aber dies ist eine Anlage weniger als vor 30 Jahren und 21 Einheiten unter dem Höchstwert von 2002», sagt Mycle Schneider, Hauptautor des Statusberichts «World Nuclear Industry».
Für Schneider gibt es keine Umkehr des Trends in der Atomkraft. Im Gegenteil. «Wäre sie ein Lebewesen, so stünde sie schon lange auf der Liste der bedrohten Arten», sagt er. Der Grund: Der Bau neuer Anlagen geht sukzessive zurück. Vor 40 Jahren standen 234 Kraftwerke als «im Bau» auf der Liste, 2013 waren es 68 Einheiten und Mitte 2019 nur noch 46. «Die Verjüngungsrate ist viel zu klein, um die kommerzielle Atomspaltung vor dem Aussterben zu bewahren», sagt Schneider.

In der Hälfte der 16 Länder, wo Atomkraftwerke im Bau sind, geben die Betreiber Verspätungen bekannt. Meistens verzögert sich der Bau gleich um mehrere Jahre. Sechs Reaktoren sind bereits seit mehr als 10 Jahren unter dem Stichwort «im Bau» aufgelistet, darunter der Reaktor Olkiluoto-3 in Finnland und das französische Projekt in Flamanville-3. Die durchschnittliche Konstruktionszeit der letzten 63 ans Netz angeschlossenen Reaktoren betrug seit 2009 knapp 10 Jahre. Diese 63 Reaktoren befinden sich in neun Staaten, 37 davon stehen in China. Der Direktor der Internationalen Energiebehörde (IEA) Fatih Birol warnte vor wenigen Monaten: «Ohne den wichtigen Beitrag des Atomstroms wird die globale Energiewende viel schwieriger.» Das zeige eine Studie der IEA. Die Energiebehörde ist besorgt über die zunehmenden Pläne in den Industrieländern, aus der Atomkraft auszusteigen.
«Jede Investition in neue Atomkraftwerke verschlimmert die Klimakrise.»
Das sei für den weltweiten Klimaschutz nicht förderlich. Ohne Atomstrom hätten die globalen CO2-Emissionen von 1971 bis 2018 um 20 Prozent höher gelegen, hiess es in der IEA-Studie. Gleichzeitig relativierte die Behörde: Die Energiewende ins postfossile Zeitalter sei nicht unmöglich. Doch brauche es weltweit in den nächsten 20 Jahren fünfmal so viel an erneuerbarer Energie, wie in den letzten 20 Jahren zugebaut wurde, um den geplanten Atomausstieg zu kompensieren.
Der neue Nuklearbericht, der unter anderem durch die Heinrich-Böll-Stiftung und die Schweizerische Energiestiftung unterstützt wird, ist in der Nuklearindustrie nicht unumstritten. Allerdings erhält er von renommierter Seite Support. So empfiehlt ihn unter anderem der ehemalige Vizevorsteher der japanischen Kommission für Atomenergie. Die Nuklearindustrie und Regierungen sollten ihn lesen, um die Entwicklung der Atomstrombranche zu verstehen.

Wie die Internationale Energiebehörde so stellten auch die Autoren des Statusberichts den Klimaschutz ins Zentrum. Sie sehen allerdings die globale Situation anders: «Jede Investition in neue Atomkraftwerke verschlimmert die Klimakrise, da die Finanzierung effizienteren Optionen entzogen wird», sagt Hauptautor Mycle Schneider.
Eine Studie des Paul-Scherrer-Instituts (PSI) aus dem Jahr 2017 weist zwar darauf hin, dass die CO2-Bilanz für die Atomkraft, über die ganze Produktionskette betrachtet, sehr gut aussehe – besser als bei der Fotovoltaik. Für die Autoren des neuen Berichts jedoch, geht es vor allem auch darum, möglichst kostengünstig und schnell die Emissionen von Treibhausgasen zu reduzieren.
Die neuen Studien des Weltklimarats (IPCC) zeigen, dass die nächsten 10 Jahre bedeutsam sind, um das Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erfüllen. Deshalb müsse man alles unternehmen, um eine Erderwärmung von 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu verhindern. «Der Vergleich verschiedener Optionen zeigt, dass die Atomkraft nicht nur die teuerste Variante ist, sondern vor allem die langsamste», sagt Schneider.
Erheblich längere Bauzeit
Der Bau von Atomkraftwerken dauert gemäss des Nuklearberichts 5 bis 17 Jahre länger als das Errichten einer Solar- oder Windkraftanalage, die die gleiche Leistung erbringen könnte. Kohlenkraftwerke würden während dieser Zeitspanne, in der der Betreiber auf eine mögliche Ablösung durch ein Atomkraftwerk warte, weit mehr CO2 ausstossen als ein Solarkraftwerk.
Andere erneuerbare Energien haben der Atomkraft längst den Rang abgelaufen. Selbst in China, das ein starkes Aufbauprogramm für nukleare Energie verfolgt, geht der Bau von Solar- und Windkraft viel schneller vorwärts. Das weltweite Stromnetz wurde im letzten Jahr um eine Leistung von 165 Gigawatt erneuerbare Energie erweitert. Die Nuklearindustrie baute um 9 Gigawatt aus.
Das hat auch damit zu tun, dass Solar- und Windenergie unter dem Strich billiger sind als Atomkraftwerke und an vielen Orten sogar die Kosten von Kohle und Gas unterbieten. «Das bedeutet, selbst Laufzeitverlängerungen können immer seltener mit neuen Kapazitäten in Wind und Solar konkurrieren», sagt Schneider.
In den USA können sich neue Solarkraftwerke inklusive Stromspeicher inzwischen mit den reinen Betriebskosten von Atommeilern messen. In Indien würden mittlerweile neue Solaranlagen mit existierenden Kohlekraftwerken konkurrieren. Es sei kein Zufall, dass dort die Produktion aus der Sonne jene der Kernspaltung wahrscheinlich schon 2019 einholen werde.
Zu einem ähnlichen Schluss kommt übrigens auch der Weltklimarat. Zumindest schreibt das die IPCC-Vizevorsteherin Diana Ürge-Vorsatz in ihrem Vorwort zum Bericht: «Es stellt sich die Frage, ob die Nuklearindustrie genügend neue Energie kostengünstig und schnell genug zur Verfügung stellen kann, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen.»
In der Bevölkerung ist die Wahrnehmung aber eine andere, wenn man der Umfrage von Swiss Nuclear, dem Branchenverband der Kernkraftwerksbetreiber, glauben darf. Die meisten Menschen sind hierzulande gemäss einer kürzlich erschienenen Medienmitteilung der Ansicht, dass Wirtschaft und Gesellschaft von der Kernenergie profitierten. Dank der AKW würden auch weniger fossile Brennstoffe verbraucht. An der Umfrage machten 2200 Personen mit.
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