Sterben, sterben, sterben
Frauenschicksale im Trojanischen Krieg: «Beute Frauen Krieg» unter der Regie von Karin Henkel überzeugt im Zürcher Schiffbau. Ein phänomenaler Passionsweg!

Der silberne Präsentierteller dreht sich schön langsam. Gaffen Sie, greifen Sie mit Blicken zu! Die zarte Frau auf der Fleischplatte ist ohnmächtig, wehrlos, ihr pfirsichfarbenes Kleid ein Fähnchen nur, aus dem verrenkt und gespreizt die Beine ragen. Selbst die Zehen bieten sich gequält dem Betrachter dar; die Füsse von Dagna Litzenberger Vinet stecken in superhohen Peeptoe-Pumps, in die sich die keusche Seherin Kassandra freiwillig nie hineingequetscht hätte.
Aber Griechenführer Agamemnon (Michael Neuenschwander) hat sie genommen, ausstaffiert und ausgestellt. «Look, but don't touch!», lacht darum eine Hetäre dreckig: Die zünftige Kate Strong mit den abgefahrenen englischen Euripides-«Übersetzungen», die sie ab und an dazwischenschiebt, macht von vornherein jedem hohen Ton den Garaus.
Schuldig will niemand sein
Der Teller dreht und dreht sich also: «Beute Frauen Krieg» nennt Regisseurin Karin Henkel den «Zyklus», den sie nun in der Schiffbauhalle zeigt. Es ist ein fast dreistündiger zornerfüllter Schmerzensschrei über «die Gewalt, die war; und die ist». So klagt Hekabe, die Königin aus dem gefallenen Troja, die jetzt als Sklavin Odysseus folgen soll – jedoch in der Gestalt der Schauspielerin Lena Schwarz die Königin des Abends bleibt, obwohl auch die zehn anderen Darsteller dem Publikum immer wieder den Atem verschlagen.
Es ist ein Aufschrei übers Dasein, das keine andere Gewissheit kennt als «sterben, sterben, sterben» – und über die Menschen, die einander Leid um Leid antun und sich doch von jeder Schuld freisprechen. Denn stets soll es die «Notwendigkeit» oder gar eine Gottheit gewesen sein, die leider, leider zur Hundsgemeinheit zwang.
Mit den Frauen begehrt die Regisseurin auf – bravourös.
Von solchen allzu menschlichen Abgründen erzählt Euripides: etwa in «Die Troerinnen», uraufgeführt 415 v. Chr., oder im Stück «Iphigenie in Aulis» von 406 v. Chr. Der zeitkritische Athener liess es keinem kommentarlos durchgehen, für hochgepriesene Werte und hohle Worte Menschen zu schlachten. In beiden Werken gibt er den Frauen Raum: Sind sie sonst dazu verdammt, ihre hingemetzelten Väter, Männer, Brüder, Söhne, ihre der Staatsräson geopferten Kinder zu beweinen, dürfen sie hier hinterfragen und aufbegehren. Und mit ihnen begehrt die Regisseurin auf – bravourös.
Henkel verwendet freie Fassungen der zwei Dramen: «Die Troerinnen» von John von Düffel und «Iphigenie in Aulis» von Soeren Voima. Sie hat das Weh auf beiden Seiten der Frontlinie des Trojanischen Kriegs in eins gewunden – und in dieses Dickicht einen Passionsweg geschlagen, der keine Läuterung bringt. Sondern Passionen, Passionsstationen: Muriel Gerstner unterteilt die Schiffbauhalle mit Vorhängen wie ein flexibles Triptychon – besser: ein dreifaches brutales Opferbild, das die Zuschauer wechselweise in Pilgergruppen besuchen.
Die Schauspieler bewegen sich durch die Finsternis auf einem langen Steg, der flankiert ist von coolen Designersesseln und kalt gewordenen Körpern. «Ihr habt euch die Hölle erschaffen, grösser als alles Leid», schleudert Kassandra den Griechen entgegen – und selbst Odysseus berichtet von dumpfer Angst. Während man pilgert, steigen und fallen die Vorhänge im Takt von Arvild Bauds harten Beats: Ursache und Wirkung spielen keine Rolle mehr, alles kreist und kreisst, eine «beispiellose Tat» jagt die nächste.
Hochaktuelles Thema
Es entsetzen die alten Geschichten, die so über uns einstürzen, dass wir sie hören, als seis zum ersten Mal: wenn da hilflose Mütter verzweifelt und vergeblich um das Leben ihrer Kinder bitten wie Hekabe, Andromache (Carolin Conrad) und Klytämnestra (Lena Schwarz); wenn junge Frauen um Erbarmen flehen wie die schöne Helena (Hilke Altefrohne, Isabelle Menke, Strong), die kindliche Iphigenie (Altefrohne, Conrad, Menke, Litzenberger Vinet).
Es erschrecken die neuen Akzentsetzungen, die unsere Gegenwart so blosslegen, dass wir sie sehen, als seis zum ersten Mal. Wie Menelaos seinen Privatkram edel verbrämt (Christian Baumbach), wie Odysseus die Rationalitätsbeschwörung und die Rede von bedauerlichen Kollateralschäden zum Mordinstrument wendet – kälter kann man nicht böse sein (Fritz Fenne): Das ist unangenehm vertraut. Wie das Schielen auf den Beifall der Massen den Untergang aller bedeuten kann, führt Neuenschwanders wankelmütiger «Trump» so schlappschwänzig vor, dass man Gänsehaut bekommt.
Richtig schlecht wirds einem bei der Splatter-Szene, wo Pyrrhos (Milian Zerzawy) Andromaches Baby an der Wand zerschmettert. Der Kopf ist eingedrückt, Blut läuft aus dem zerstörten Mündchen und über Conrads grossartig zerstörte Mutter. Wir beben, obwohl die 47-jährige Kölner Regisseurin viel tut, um Distanz zu markieren. Man läuft mit Kopfhörern herum, deren grüne Lichtlein im Dunkel leuchten; man wird von einem Familiendrama ins nächste geschubst, von einer Sprache in die andere.
Manche Frauenrolle schliesslich ist mehrfach besetzt, und die feministische Reflexion über weibliche Identität wird gleich grandios giftig mitgeliefert. Zumindest bis zur Pause rast das Herz ungebremst mit. Erst gegen Ende beruhigt und verlangsamt sich der Puls. Da ist es auch egal, dass Karin Henkel ihre beste Zürcher Arbeit (bis zur neuen), «Elektra» von 2013, recht ähnlich in den Schiffbau hineincollagierte. Bei «Beute Frauen Krieg» heisst es: zugreifen!
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