Martin Ackermann über Corona-Krise«Spitalmitarbeitende und Betroffene sollten aus ihrem Alltag erzählen»
Der Chef der Corona-Taskforce hat einen Einblick in seinen Alltag gewährt – sich zu Skeptikern und zum Bundesrat geäussert.

In Zeiten der Corona-Pandemie ärgern sich viele über angeblich unfähige Politikerinnen und Politiker. Wie ihre Arbeit tatsächlich aussieht, davon hat Martin Ackermann einen Eindruck gewonnen, wie er in einem Interview im ETH-Magazin schildert. Wenn er nicht gerade an einem Point de Presse vor die Medien trete, arbeite er im Hintergrund in verschiedenen Spannungsfeldern, sagt der Leiter der Corona-Taskforce des Bundes.
Dabei dreht sich laut Ackermann vieles um die Beziehungspflege. «Wir können unseren Job ja nur gut machen, wenn jene, die Entscheidungen fällen, uns vertrauen.» Die Covid-19-Taskforce sei als Stimme der Wissenschaft und als beratende Stelle der Regierung darauf angewiesen, dass die Politik Vertrauen ins Gremium habe. Dieses genoss die Taskforce Ackermann zufolge aber nicht schon immer, denn als unabhängige Stimme müsse die Taskforce die Regierung ja auch kritisch hinterfragen. «Es hat seine Zeit gebraucht, bis wir das Vertrauen der Politik gewonnen haben.» Lesen Sie auch: «Die Covid-Taskforce ist zu alarmistisch» – stimmt das?
Sieht sich die Schweiz als etwas Besseres?
Ackermann ist überrascht, wie schwer sich die Schweiz mit der Krise tut. «Natürlich übertrifft diese Krise schlicht alles, was ich mir vorstellen konnte – dennoch dachte ich, wir kriegen das besser hin.» Erwartet hätte er, dass die Politik evidenzbasiert handeln und die Schweiz ihre technologischen Möglichkeiten nutzen würde. Seine hohen Erwartungen diesbezüglich seien aber enttäuscht worden.
Das grösste Problem sei die Auffassung, man müsse sich zwischen Gesundheit und Wirtschaft entscheiden. Deshalb sei es schwergefallen, früh einzugreifen. Dabei sei für die Taskforce klar, dass es auch ökonomisch besser sei, harte Massnahmen zu treffen, um die Zahl der Neuansteckungen zu senken, als mit weichen Massnahmen lange Perioden mit hohen Fallzahlen in Kauf zu nehmen. Lesen Sie auch: Taskforce-Chef warnt: «Nicht zu viel auf einmal lockern»
«Viele spüren im Alltag nicht viel vom Coronavirus»
Gerade als während der zweiten Welle ein Viertel der Intensivbetten frei war, gab es wenig Rückhalt für harte Massnahmen. Als im Oktober die Fallzahlen wieder rasch anstiegen, hätten 200 zusätzliche zertifizierte Intensivbetten geschaffen werden und das Personal länger arbeiten sollen. Daran zeigt sich laut Ackermann, dass der Umgang mit einem exponentiellen Wachstum nicht gut gelinge. «Wenn man eine exponentielle Entwicklung hat, nützen lineare Massnahmen nichts», sagt Ackermann. «Aber das will man zu Beginn einer solchen Entwicklung eben nicht wahrhaben.»
Auch auf die Frage, warum so viele Leute skeptisch seien, hat der Biologe eine Antwort: Die meisten würden in ihrem Alltag nichts oder nicht viel vom Coronavirus spüren. «Du siehst es nicht, du spürst es nicht, aber alle sagen dir, da sei etwas ganz Schlimmes und du müsstest dich deshalb stark einschränken.» Deshalb rät er: «Spitalmitarbeitende und Betroffene sollten aus ihrem Alltag erzählen.»
Bundesrat? «Ich bleibe vielleicht doch lieber Professor»
Ackermann windet den so oft kritisierten Politikern ein Kränzchen: «Ich habe grossen Respekt davor, was Politikerinnen und Politiker leisten.» Ihre Arbeit sei, anders als in der Wissenschaft, stark von äusseren Bedingungen und von Sachzwängen geprägt. Viele Politikerinnen und Politiker würden aber nicht nur viel von Politik verstehen, sondern auch von der Wissenschaft der Pandemie.
«Wir stellen wissenschaftliche Grundlagen zur Verfügung, die Politik trifft Entscheidungen», sagt Ackermann auf die Frage, ob er nicht manchmal gern Bundesrat wäre. «In der aktuellen Situation fände ich es tatsächlich manchmal befriedigender, nicht nur vorzuschlagen, sondern auch mitzuentscheiden.» Allerdings habe er auch gemerkt, wie gross der Druck sei, dem Politiker ausgesetzt sind. «Ich bleibe vielleicht doch lieber Professor.»
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oli
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