Kosten explodierenTausenden Schweizer Rentnern fehlt das Geld für die Betreuung
Ohne Hilfe im Alltag droht einer halben Million Menschen Vereinsamung und Verwahrlosung. Eine Studie zeigt, wo es harzt, welchen Support es braucht und wie er finanzierbar wäre.

2050 werden 10 Prozent der Schweizer Bevölkerung über 80 Jahre alt sein, heute sind es 5 Prozent. Diese demografische Entwicklung führt dazu, dass künftig mehr Menschen auf medizinische Pflege, aber auch auf psychosoziale Betreuung angewiesen sind. Dabei geht es um Hilfe im Haushalt und bei administrativen Arbeiten sowie um soziale Kontakte und Alltagsgestaltung. Laut einer neuen Studie im Auftrag der gemeinnützigen Paul-Schiller-Stiftung mit Sitz in Zürich ist der Betreuungsbedarf bereits heute gross. Viele Ältere in der Schweiz könnten sich die nötige Unterstützung nicht leisten.
Wo fehlt es an Unterstützung für Ältere?
Die medizinische Pflege im Alter, darunter Spitex-Leistungen, ist in der Schweiz durch die Krankenversicherung und allenfalls über AHV-Ergänzungsleistungen finanziert. Nicht gedeckt sind jedoch die Kosten, wenn Betagte Unterstützung bei der Bewältigung ihres Alltags brauchen. Diese Hilfe wird heute häufig durch Angehörige oder Bekannte geleistet. Doch die stossen oft an ihre Grenzen, und es wäre professionelle externe Hilfe nötig. Dazu zwei Fallbeispiele aus der Studie:
Der über 80-jährige Herr M. ist seit kurzem Witwer und lebt allein in seiner Wohnung. Sohn und Tochter helfen ihm bei organisatorischen und administrativen Aufgaben. Der Mann ist motorisch eingeschränkt und benötigt einen Rollator. Die Spitex wendet morgens und abends je 20 Minuten für die Pflege auf, was von der Krankenversicherung übernommen wird. Auch erhält er drei Stunden pro Woche Haushalthilfe bezahlt. Neben dieser medizinisch begründeten Betreuung bräuchte der Rentner jedoch soziale Unterstützung, die weder Spitex noch seine beiden Kinder bieten können. Dabei geht es um Gespräche oder Fahrdienste, damit er an seinen Jassrunden teilnehmen kann. Zudem muss die Versorgung durch den Hausarzt besser koordiniert werden. Der zusätzliche Betreuungsbedarf wird auf 4 Stunden pro Woche geschätzt.
Die 85-jährige Frau Y. lebt seit kurzem im Pflegeheim. Sie ist zwar mobil, hat aber kognitive Einschränkungen, ist gelegentlich desorientiert und verläuft sich manchmal. Sie hat keine Angehörigen. Die Umstellung auf das Leben im Heim überfordert sie, weshalb sie beim schon beim Aufstehen oft aggressiv ist. Damit sie die Mahlzeiten einnimmt, muss das Personal vor und während des Essens präsent sein. Allerdings kann das Heim neben der eigentlichen Pflege nur ein bis zwei Stunden täglichen Betreuungsaufwand leisten. Der Bedarf, um Frau Y. die nötige Tagesstruktur zu bieten, wird auf das Doppelte geschätzt.
Wie hoch wären die Kosten für die zusätzliche Betreuung heute?
Gemäss der Studie benötigen heute in der Schweiz bis zu 620’000 Menschen über 65 Jahre zusätzliche Betreuung, damit sie nicht vereinsamen oder gar verwahrlosen. Diese Zahl entspricht 40 Prozent der über 65-jährigen Bevölkerung. Dabei handelt es sich laut Studie um die Zahl «potenziell» auf zusätzliche Betreuung angewiesener Personen, dementsprechend ist die Bandbreite der Kostenschätzung gross.
Der zusätzliche Aufwand, um eine gute Betreuung zu gewährleisten, wird auf jährlich 14 bis 28 Millionen Stunden geschätzt. Die Kosten betragen 800 Millionen bis 1,6 Milliarden Franken. Dieser Schätzung liegt der gegenwärtige Stundenansatz für professionelle Betreuung zugrunde, der im ambulanten Bereich auf 61 Franken und im stationären Bereich auf 50 Franken angelegt wird.
Wie hoch sind die Betreuungskosten im Jahr 2050?
Die Studie schätzt, dass die Kosten um 70 bis 170 Prozent ansteigen werden auf jährlich 1,4 bis 4,3 Milliarden Franken. Falls es jedoch durch die bessere Betreuung gelinge, Eintritte in Alters- und Pflegeheime zu verzögern, seien im Gegenzug Einsparungen bei der Heimfinanzierung zu erwarten. Die Kostenschätzung basiert auf der Annahme, dass die Leistungen vollumfänglich durch professionelle Dienste erbracht werden.
Wie soll die Betreuung finanziert werden?
Die Studie geht davon aus, dass ein Teil der zusätzlichen Betreuungskosten vom Staat getragen werden muss. Denn auch Rentnerinnen und Rentnern mit tieferem Einkommen müsse ein «würdiges Leben im Alter» ermöglicht werden. Die Studie erörtert mehrere Finanzierungsvarianten, davon sieht eine die Vergütung der Betreuungskosten durch die Ergänzungsleistungen (EL) vor. Dadurch werden nur Personen Betreuungsgeld erhalten, die gewisse Einkommens- und Vermögensgrenzen nicht überschreiten.
Ein anderer Vorschlag sieht sogenannte Betreuungsgutscheine vor, die nach einer Abklärung des Bedarfs ausgerichtet werden. Die Gutscheine gibt es nur, wenn gewisse Einkommens- und Vermögensgrenzen nicht überschritten werden. Möglich wäre aber auch eine Anstossfinanzierung von Institutionen durch den Bund und die weitere Finanzierung der Betreuungsdienste durch die Kantone.
Eine dritte Variante sind vergünstigte Tarife für Personen mit einem Betreuungsbedarf und gleichzeitig eine staatliche Finanzierung von Organisationen, die die Betreuung anbieten.
Wo gibt es bereits solche Betreuungsangebote?
Liechtenstein hat 2010 ein Betreuungs- und Pflegegeld eingeführt. Die Stadt Bern führt ein dreijähriges Pilotprojekt, bei dem Rentnerinnen und Rentner Betreuungsgutsprachen beantragen können. In Luzern gibt es ein Pilotprojekt, das Gutscheine für selbstbestimmtes Wohnen ausstellt. In den Niederlanden sind die Gemeinden gesetzlich verpflichtet, ihren Bürgerinnen und Bürgern Hilfe- und Betreuungsleistungen anzubieten, damit sie möglichst lange zu Hause leben können.
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