Tibeter wurden an ihrer Demo von Unbekannten fotografiert
Sie sagen, sie seien Touristen. Werden sie zur Rede gestellt, verschwinden sie aber. Für die fotografierten Tibeter haben die Bilder Konsequenzen.

Der Mann im Bild läuft hastigen Schrittes durch die Menge. Er ist ganz in Schwarz gekleidet – schwarz sind die Kapuzenjacke, der Rucksack, die Turnschuhe. Die Kamera folgt ihm, das Bild wackelt. Aus dem Off fragt eine Frauenstimme auf Englisch: «Wieso kann ich von ihnen kein Foto machen, wenn sie ein Tourist sind?» Der Mann läuft noch schneller, ohne sich umzudrehen, läuft vorbei an tibetischen Flaggen, Kinderwagen, Ampeln, an einem rot gekleideten Mönch. Die Kamera beschleunigt ebenfalls. Dann fragt die Frauenstimme: «Weshalb laufen sie weg, wenn sie kein chinesischer Spion sind?» Nun rennt der Mann mit Rucksack und wird im Bild immer kleiner.
Die Frauenstimme gehört Tenzin Losinger, einer jungen Frau mit tibetischen Wurzeln und früheren Präsidentin des Zürcher Vereins Tibeter Jugend in Europa. Am vergangenen Samstag, an der Demonstration zum 59. Jahrestag des tibetischen Volksaufstands in Genf, beobachtete sie, wie zwei Männer die Rednerinnen und Redner auf dem Podium fotografierten. Gefragt, wer sie seien, sagten sie: japanische Touristen. Dann trennten sie sich, Tenzin Losinger folgte dem einen und filmte ihn mit dem Handy.
Für sie ist klar: Es waren keine japanischen Touristen. «An unseren Demonstrationen werden wir immer von Unbekannten gefilmt und fotografiert, das sind wir uns gewohnt», sagt sie. Weil sich diese aber nie zu erkennen gäben, können sie nur vermuten, für wen sie arbeiteten: für die chinesische Botschaft in der Schweiz. «Aber man darf nicht akzeptieren, dass die Volksrepublik China in anderen Ländern macht, was sie will.»
Wir sehen euch
Thomas Büchli, Präsident der Schweizerisch-Tibetischen Freundschaft, hielt an derselben Demonstration eine Ansprache. Er geht davon aus, dass er dabei von Personen fotografiert wurde, die dies im Auftrag der chinesischen Botschaft taten. Einmal mehr. Als Beispiel nennt er auch eine Demonstration anlässlich eines Gedenktags vor dem chinesischen Konsulat in Zürich am 6. Januar dieses Jahres. Während Büchli eine Ansprache hielt, trat ein Angestellter des Konsulats auf den Balkon und begann, die Teilnehmer zu fotografieren. «Es war eine Machtdemonstration: Wir sehen euch. Und wir wissen, wer ihr seid.»
Das ist nach Ansicht Büchlis ein absolutes No-go. «Wir begnügen uns aber nicht mehr damit, nur auf solche Missstände hinzuweisen. Wir verlangen, dass der Bundesrat eine offizielle Protestnote bei der chinesischen Botschaft deponiert und klar sagt, dass die Grundrechte in der Schweiz nicht verletzt werden dürfen.»
Rücklings fotografiert
So haben Tibet-Organisationen und die Gesellschaft für bedrohte Völker erst am Freitag eine entsprechende Kampagne lanciert. Die Nationalrätinnen Maya Graf (Grüne) und Barbara Gysi (SP) fordern etwa vom Bundesrat, dass er aufzeigt, was sein Menschenrechtsdialog mit China bisher gebracht hat und welche Auswirkungen das Freihandelsabkommen mit China auf die Menschenrechte hat. Die Organisationen stellten am Freitag fest, dass China seit 2014, seit das Freihandelsabkommen mit der Schweiz in Kraft ist, zunehmend Einfluss auf Tibeterinnen und Tibeter in der Schweiz ausübt und sie stärker überwacht. «Nur einen Tag später wurde an der Demo in Genf ein weiterer Beweis dafür geliefert», sagt Büchli.
Tatsächlich wurde der Beweis aber noch gleichentags geliefert. Die Gesellschaft für bedrohte Völker organisierte ebenfalls noch am Freitag einen Flashmob in Bern. Ein Journalist dieser Zeitung beobachtete, wie sich eine Gruppe von Tibeterinnen und Tibetern unter den Lauben dafür vorbereitete. Da näherte sich ihnen ein Mann. Er lief rückwärts auf sie zu, hielt ein Handy vor seinen Augen und tat so, als ob er eine Selfie aufnehmen würde. Er machte eine ganze Reihe von Fotos – bis er bemerkte, dass ihn der Journalist beobachtete. Dann war er weg.
In Tibetfahne gewickelt fotografiert
Auch andere Tibeter schildern dieser Zeitung, wie sie an der Demo in Genf fotografiert wurden, etwa Jigme Adotsang. Er verliess, in eine Tibetfahne gehüllt, eine Tiefgarage nahe der Kundgebung, als er von zwei Männern fotografiert wurde. Sie taten so, als hätten sie bei diesem unfreundlichen Wetter den See fotografiert. Und sie sprachen, wie Adotsang sagt, Chinesisch miteinander. Er folgte den Männern. Sie liefen zur Demo und fotografierten weiter – als wären sie Touristen. Darauf fotografierte Adotsang auch die beiden Männer. Das Foto, das er dieser Zeitung schickte, zeigt zwei dunkel gekleidete Männer in Anoraks, Asiaten, in der Hand einen Schirm eines Genfer Viersternhotels.
Die chinesische Botschaft in Bern konnte gestern zu den Vorgängen in Genf und anderen Fragen dieser Zeitung keine Stellung nehmen. Der Pressechef teilte mit, dass der zuständige Medienverantwortliche abwesend sei.
In Tibeterkreisen hiess es am Montag, es sei wegen der Bespitzelungen eine Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft eingereicht worden. Dort war bis gestern Abend jedoch keine eingegangen, wie Informationschef André Marty sagte. Die Frage ist jedoch, ob sich Personen, die gezielt Demonstrationsteilnehmer fotografieren, strafbar machen. Die Situation lasse sich anhand der vorliegenden Informationen strafrechtlich nicht abschliessend einordnen, sagte Marty. Es ginge darum, die gesamte Situation zu beurteilen, um allfälliges strafrechtlich relevantes Verhalten festzustellen.
Nie mehr zurück
Die Frage ist, was mit den Fotos und Filmen geschieht, die in diesem Fall von Tibeterinnen und Tibetern an Demos gemacht werden. Tenzin Yundung, Co-Präsidentin des Zürcher Vereins Tibeter Jugend in Europa, weiss es nicht. Sie hat auch nie eines der Fotos gesehen.
Aber: Als sie 2014 in ihre Heimat reisen wollte, hat sie von der chinesischen Botschaft in Bern kein Visum dafür bekommen. Auch Thomas Büchli weiss von mehreren Tibetern, die sich politisch engagierten – und die daraufhin kein Visum mehr für das autonome Gebiet Tibet erhalten haben. Tenzin Yundung sagt: «Wir Tibeterinnen und Tibeter gehen mit dem Wissen an unsere Demos, dass wir nachher nie mehr in unsere Heimat zurückkehren können.»
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