Tragischer Held mit arroganter Fratze
Beweise waren im Prozess gegen Oscar Pistorius Mangelware. Trotzdem hat sich die südafrikanische Öffentlichkeit ein Urteil gebildet.
Die Nerven liegen blank. Als Oscar Pistorius am Wochenende von Reportern der südafrikanischen «Sunday Times» vor seinem Haus in Pretoria gefragt wird, wie er sich denn fühle, platzt dem beinamputierten Ausnahmesportler der Kragen. «Habt ihr wirklich die Dreistigkeit, mich zu fragen, wie mir in dieser Phase meines Lebens zumute ist?», faucht der wegen Mordes an seiner Freundin Reeva Steenkamp angeklagte Olympionike die Journalisten an: Sie sollten ihn gefälligst in Ruhe lassen. Der Countdown zur Urteilsverkündung in dem weltweites Aufsehen erregenden Prozess gegen den 27-jährigen Kurzstreckenläufer fordert seinen Tribut: Am heutigen Donnerstag wird Oscar Pistorius wissen, ob er den besten Teil seines Lebens im Gefängnis verbringen muss – oder freigesprochen wird. Es ist die Stunde von Thokozile Matilda Masipa. Zum ersten Mal in dem mehr als sechs Monate und 41 Sitzungstage dauernden Verfahren wird die 66-jährige Richterin dem Prozessverlauf nicht mehr schweigend folgen, ihren Kopf auf die rechte Hand gestützt, mit der linken fast ununterbrochen Notizen schreibend. Die fragile Juristin, die sich allmorgendlich vermutlich infolge einer Polioinfektion hinkend am Geländer zu ihrem erhobenen Platz im Saal DG des Landgerichtes in Pretoria hochzog, verzog während des Verfahrens kaum einmal die Miene, peinlich darauf bedacht, keine Neigungen zur Schau zu stellen. Dafür plusterten sich unter ihr zwei der profiliertesten Figuren des südafrikanischen Rechtswesens auf: Verteidiger Barry Roux, der in seinen von den laufenden Kameras angefachten Allüren höchstens noch von Staatsanwalt Gerrie Nel überboten wurde. Richterin Masipa überliess die Arena den beiden Hähnen, um nur gelegentlich eine einfach formulierte Frage zu stellen oder in einem Streitfall ein abgewogenes, nie umstrittenes Urteil zu fällen. Die Juristin wusste, dass sie es ist, die schliesslich das letzte Wort sprechen wird.Richterin über den zweiten Bildungsweg
Dass eine Schwarze, noch dazu eine Frau aus ärmlichen Verhältnissen, über einen reichen weissen Mann, noch dazu einen einstigen Helden der südafrikanischen Nation, richten wird, ist ein Detail, das im ehemaligen Apartheidstaat keinem verborgen blieb – ein Zeichen dafür, wie weit der Regenbogenstaat zumindest in einigen Bereichen gekommen ist. Die Justizbehörde beharrt darauf, dass die Wahl Masipas zur vorsitzenden Richterin zufällig zustande kam: Man sei lediglich der Liste gefolgt, wurde versichert. Spätestens Masipa selbst machte aus dem Zufall jedoch Methode, indem sie sich als Beisitzer eine weisse Amtsrichterin und einen schwarzen Amtsrichter aussuchte – ein Bollwerk der Ausgewogenheit. Was man von Masipa selbst eigentlich nicht sagen kann. Die über den zweiten Bildungswerk reüssierte Richterin machte in ihren knapp 16 Amtsjahren durch zwei scharfe Urteile gegenüber männlichen Gewalttätern auf sich aufmerksam: Sie brummte einem Polizisten lebenslänglich auf, der seine Frau im Streit um die von ihr gewünschte Scheidung umgebracht hatte, und verdonnerte einen Serienvergewaltiger zu 252 Jahren. Womöglich werde Mathilde Masipa in Oscar Pistorius eher den schiesswütigen, arroganten Macho sehen, der seine Freundin an jenem 14. Februar des vergangenen Jahres in seiner Wohnung in Pretoria im Streit absichtlich tötete (wie der Staatsanwalt unterstellt) – und weniger den verwundbaren Behinderten, der ob eines nächtlichen Geräuschs tragischerweise in Panik seine schöne Geliebte in der Toilette erschoss, wurde geargwöhnt. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen den zwei anderen Fällen und diesem: Dort stand die Schuld der Angeklagten jeweils zweifelsfrei fest. Hier blieb Oscar Pistorius' tatsächliche Verantwortung bis zum letzten Moment umstritten.Die Show der Parteienvertreter
Prozessbeobachter und Südafrikas Öffentlichkeit, die das Verfahren erstmals in der Geschichte des Landes live im Fernsehen verfolgen konnte, mussten während des Jahrhundertverfahrens auf nichts verzichten. Die Dramatik im Gerichtssaal hatte Hollywood-Qualität: Etwa als sich der Angeklagte, von den Schilderungen der tödlichen Verletzungen seiner Geliebten erschüttert, immer wieder in einen grünen Kübel übergeben musste oder sich zu Beginn seines Kreuzverhörs bei Reevas Familie tränenreich für seine nach seinen Worten versehentlich abgegebenen Todesschüsse entschuldigte. Reevas Mutter June starrte indessen nur bewegungslos auf den Angeklagten: Zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens kam es zu einer versöhnlichen Geste. Die eigentliche Show aber rissen die beiden Kontrahenten Barry Roux und Gerrie Nel an sich. Über Monate teilte sich das Kap der Guten Hoffnung in ein Lager der Roux- und der Nel-Fans auf: Die juristischen Fakultäten des Landes hatten gegen eine Flut an Anfragen zu den Voraussetzungen eines Jura-Studiums anzukämpfen. Rap-Sänger verfassten Verse auf die neuen Reality-TV-Stars. Und von der korrupten Regierungspartei enttäuschte Bürger schlugen dem unbestechlich erscheinenden Staatsanwalt Nel eine politische Karriere vor. Nur eines gelang den beiden Widersachern nicht: eindeutige Beweise dafür zu präsentieren, dass ihre Sicht der Vorgänge die einzig mögliche ist. Wer erwartet hatte, dass Staatsanwalt Nel irgendwann einen unschlagbaren Trumpf aus der Tasche ziehen würde, sah sich enttäuscht. Nicht einmal die Daten der Handys gaben Entscheidendes her, zu deren Entschlüsselung drei Mitglieder der Staatsanwaltschaft noch kurz vor dem Prozess eigens zu Apple nach Kalifornien geflogen waren. Selbst ein hieb- und stichfestes Motiv für einen geplanten Mord blieben die Ankläger schuldig: Bei dem angeblichen Streit der Liebenden handelt es sich um unbewiesene Spekulation. Pistorius' Darstellung der Ereignisse in der Tatnacht, die er bereits kurz nach seiner Festnahme vor eineinhalb Jahren geschildert hatte, vermochte Staatsanwalt Nel im Kreuzverhör nicht ad absurdum zu führen: Auch wenn es einige Unwahrscheinlichkeiten, kleinere Widersprüche und «Nachbesserungen» in der Fassung des Angeklagten gab – ausgeschlossen ist seine Version mitnichten. Dasselbe gilt allerdings auch für die Fassung des Staatsanwalts. Nur einer weiss die Wahrheit aus eigener Anschauung: Doch der sass befangen auf der Anklagebank.
Ein Extremurteil ist unwahrscheinlich So war Richterin Masipa bei ihrer Suche nach der Wahrheit auf Indizien und die Aussagen der Zeugen angewiesen. Auch diese widersprachen sich jedoch: Wie Pistorius' Nachbarn, von denen manche in der Tatnacht eine Frauenstimme im Streit, andere eine verzweifelte Männerstimme zu hören glaubten. Masipa blieb nichts anderes übrig, als die ihr am wahrscheinlichsten erscheinende Version aus den Aussagen der Zeugen und der Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit zu destillieren: Ein detektivisch-psychologischer Balance-Akt, um den die Richterin nicht zu beneiden ist. Beobachter halten es für möglich, dass allein der Vortrag ihres vermutlich Hunderte von Seiten langen Urteils mehr als einen Tag lang dauern wird. Dass die Richterin mit einem der beiden Extreme – schuldig des geplanten Mordes oder unschuldig wegen Notwehr – aufwarten wird, gilt als unwahrscheinlich. Um einen Menschen lebenslänglich ins Gefängnis zu sperren, sind bessere Beweise nötig. Andererseits ist so gut wie auszuschliessen, dass Pistorius freigesprochen wird: Schliesslich hat er einen unschuldigen Menschen umgebracht. Zwischen beiden Extremen gibt es jedoch eine ganze Anzahl von Zwischenstufen: Eine Verurteilung wegen Totschlags etwa, dem statt Absicht ein Versehen zugrunde liegt. Oder weniger ernsthafte Varianten von Mord, die sich in Südafrikas Rechtsprechung eingebürgert haben: Der nicht wirklich geplante, aber einkalkulierte Mord (lateinisch: dolus directus). Oder der im Affekt begangene Mord, bei dem der Tod nicht einkalkuliert, aber in Kauf genommen wurde (dolus eventualis). Würde Richterin Masipa der Schilderung des Angeklagten Glauben schenken, könnte sie Pistorius dennoch des Dolus-eventualis-Mordes für schuldig befinden: Denn der leicht aufbrausende Waffennarr liess sich zumindest einen schweren Verstoss gegen das Waffengesetz zuschulden kommen, indem er das Feuer auf eine nicht einmal wahrgenommene Person eröffnete. Wie konnte er sich sicher sein, dass von dieser Person tatsächlich eine Gefahr ausging? An dieser Stelle stellt sich dann allerdings die Frage, ob ein Behinderter auf Gefahr nicht ganz anders als ein im Vollbesitz seiner Kräfte stehender Mensch reagiert: Ein Thema, dem viele Stunden des Prozesses gewidmet waren. Die Verteidigung präsentierte einen Sachverständigen, der eindrucksvoll beschrieb, warum Pistorius gleichzeitig einer der schnellsten Menschen und doch eine durch und durch handicapierte und verunsicherte Person sein kann. Ein Behinderter verliere das Bewusstsein seines körperlichen Defizits nie, so Sportpsychologe Wayne Derman: «Er wacht morgens mit dem Wissen um seine Versehrtheit auf und geht abends damit ins Bett.»Vom Helden zum arroganten Fratz
Pistorius' tragische Geschichte wird Richterin Masipa in ihrem Urteil nicht unberücksichtigt lassen können – zu sehr ist seine traumatische Vergangenheit mit den Ereignissen in der Tatnacht verbunden. Der Verlust beider Beine im zarten Alter von elf Monaten; der Verlust der Mutter, die starb, als Oscar 15 Jahre war; der Vater, der sich niemals um den Sohn kümmerte. Oscar leitete offenbar alle Wut über das unfaire Schicksal in seine Sportlerkarriere: Er wusste mit seinen Prothesen bald dermassen geschickt umzugehen, dass er zum «schnellsten Mensch der Welt ohne Beine» und in der Werbung gar zum Übermenschen, zum stählernen Sieger über die ungerechte Natur erhoben wird. Aus dem blauäugigen Bübchen aus Pretoria wird ob der weltweiten Glorifizierung allmählich ein arroganter Fratz: Ein Grund dafür, dass ihn viele Südafrikaner – ob mit den nötigen Beweisen oder nicht – für immer hinter Gittern sehen wollen. Richterin Masipa wird von einer ehemaligen Kollegin als «tough cookie» bezeichnet, als eine, die sich nicht unterkriegen lässt. Ihr Leben begann nicht unter der Glocke eines bürgerlichen weissen Haushalts: Sie wuchs als ältestes von zehn Kindern ihrer Eltern in der Johannesburger Schwarzensiedlung Soweto auf, schlief auf dem Küchenboden, studierte erst Sozialarbeit, um sich später als Journalistin zu verdingen, und absolvierte schliesslich in Nachtarbeit ein Jura-Studium. Im Alter von 43 Jahren machte sie ihr Staatsexamen und wird acht Jahre später zur zweiten schwarzen Richterin an einem südafrikanischen Landgericht ernannt. Zu diesem Zeitpunkt hatten Staatsanwalt Nel und Verteidiger Roux bereits einen Grossteil ihrer Karrieren hinter sich.Pistorius hat all seine Häuser verkauft
«Ich habe keinen Zweifel daran, dass das Urteil bei Thokozile in besten Händen liegt», sagt die ehemalige Journalistin Maud Motanyane: «Ob es sich um Oscar und seine Eltern, Reeva und ihre Eltern oder Südafrika im Allgemeinen handelt.» Von Richterin Masipa ist tatsächlich nicht zu erwarten, dass sie überstürzt den ersten Stein wirft oder dass sie kein Verständnis für die Tragödie des Sturzes eines zutiefst verletzten Heroen aufbringt. Allerdings wird die Richterin auch wissen, dass Pistorius allein um seiner selbst willen bestraft werden muss: Denn wer einem Menschen das Leben nimmt – selbst wenn es aus Versehen geschah –, muss dafür büssen. «Sonst tut er sich möglicherweise selbst noch etwas an», meint eine Johannesburger Psychologin. Dem Angeklagten selbst sind solche Überlegungen vermutlich fremd. Der «Sunday Times» zufolge hat der gestürzte Olympionike kürzlich alle seine südafrikanischen Häuser verkauft: Ob der auf Kaution hin Freigelassene einen schnellen Abgang aus Südafrika vorbereitet oder alles Geld zur Verfügung haben will, um das juristische Verfahren durch sämtliche Instanzen hindurch ausfechten zu können: Auch diese Frage muss in der Akte Pistorius zunächst zumindest offen bleiben.
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