Trauen Sie keiner Verbandsstatistik
Reiche Schweizer hätten wenig, Arme hingegen stark von Steuerreformen profitiert, sagt Economiesuisse in einer Studie. Die Aussage ist problematisch, wie unsere Analyse zeigt.
Unter dem Titel «Wer hat, dem wird genommen» berichteten wir gestern über eine neue Studie der Economiesuisse. Der Wirtschaftsverband schreibt darin, dass tiefe und mittlere Einkommen stark durch Steuerreformen entlastet wurden.
Gleichzeitig macht Economiesuisse die Aussage, dass hohe Einkommen wenig durch Steuerreduktionen profitiert hätten und immer mehr zum Steueraufkommen beitragen würden. Auch die Ansicht, die Reichen würden immer reicher, sucht Economiesuisse in seiner Studie zu entkräften (siehe Bildstrecke links).
Wie viel sind 30'000 Franken wert?
Vorbehalte sind jedoch angebracht. Ein Kritikpunkt an der Studie betrifft die Art und Weise, wie Economiesuisse die Besteuerung der Einkommen über die Zeit vergleicht. Gemäss Economiesuisse zahlte eine ledige Person mit 30'000 Franken Einkommen im Jahr 2010 rund 50 Prozent weniger als im Jahr 1990. Verschwiegen wird aber die Tatsache, dass 30'000 Franken im Jahr 2010 teuerungsbedingt etwa 32 Prozent weniger Wert waren als 20 Jahre zuvor.
Weil Einkommen in der Schweiz (zumindest in der überwiegenden Zahl der Kantone) progressiv besteuert wird, lässt sich alleine aus der Teuerung schon eine gewisse Steuerreduktion errechnen. Der Effekt der kalten Progression (siehe Box) wird von Economiesuisse jedoch vernachlässigt. Stattdessen wird eine Grafik gezeigt, die für Ledige einen Steuerrückgang von 54 Prozent und für Verheiratete mit zwei Kindern einen Rückgang von 95 Prozent ausweist. «Leidet Economiesuisse unter Geldillusion?», fragte die St. Galler Wirtschaftsprofessorin Monika Bütler deshalb gestern auf ihrem Blog (und lieferte heute Nachmittag noch die Antwort dazu, Anm. d. Red.).
Auch viele unserer Kommentarschreiber übten Kritik an der Statistik. Urs Furrer von Economiesuisse äussert sich dazu folgendermassen: «Auch bei Berücksichtigung der Teuerung verändern sich unsere Aussagen nicht, weil mit dem Ausgleich der kalten Progression die Steuerbelastung der betroffenen Einkommensklassen jeweils proportional gesenkt wird.» Genau um den Ausgleich der kalten Progression geht es bei der Statistik aber: Die Steuersätze steigen mit der Teuerung. Ein Einkommen von 30'000 Franken galt früher mehr als heute und wurde deshalb auch höher besteuert.
Economiesuisse überschätzt somit die Steuerreduktionen, welche die Geringverdiener in den letzten zwei Jahrzehnten erhielten. Bestätigt wird dies durch Berechnungen der Gewerkschaft SGB: «Inflationsbereinigt verkehrt sich das Bild», so Sprecher Marco Kistler.
Die Macht der Grafik
Unbestritten bleibt jedoch, dass auch Geringverdiener in den letzten Jahren von niedrigeren Steuersätzen profitiert haben. Man kann dies als Erfolg werten: Der Wohlstand im Land steigt, für die Finanzierung des Staates müssen die Bürger weniger Steuern bezahlen. Vorsicht ist jedoch bei verteilpolitischen Schlüssen angebracht: Je nach Art der Darstellung kann die «Geschichte», die eine Grafik erzählt, erheblich variieren. Ein Rechenbeispiel, das uns von einem Forschungsbüro zugesandt wurde, zeigt dies auf (siehe Bildstrecke oben).
Das Beispiel basiert auf denselben Daten der Steuerverwaltung, die auch Economiesuisse verwendete – wobei sie nur bis 1997, und nicht bis 1990 zurückging. Darin werden die (inflationsbereinigten!) Steuersenkungen im Zeitraum 1997 bis 2008 für verschiedene Einkommensklassen aufgeführt.
Der Ausweis der Frankenbeträge fördert eine eindeutiges Bild zutage: Gutverdiener konnten im Vergleich zu tiefen Einkommen ein Vielfaches an Steuern sparen (Grafik 1). Vergleicht man die Ersparnisse in Prozentpunkten, so relativiert sich diese Aussage (Grafik 2). Vollends verkehrt wird sie, wenn statt Prozentpunkten die relative Veränderung verglichen wird: Tieflöhner erscheinen nun als die grossen Profiteure der Steuerpolitik in den vergangenen Jahren (Grafik 3).
Die Lohnschere gibt es doch
Bei den Lohneinkommen macht Economiesuisse nur einen leichten Anstieg der Ungleichheit aus. Der Wirtschaftsverband stützt sich dabei hauptsächlich auf einen internationalen Vergleich sowie auf eine Zeitreihe des Gini-Koeffizienten (siehe Box) seit 1950 (siehe Bildstrecke links). Die Antwort der sozialpolitischen Gegenspieler folgte auf dem Fuss: Unter dem Titel «Im Dienste des reichsten Prozents» veröffentlichte der Schweizerische Gewerkschaftsbund gestern eine Gegendarstellung zur Economiesuisse-Studie.
Laut Ökonom Daniel Lampart kann von leichtem Auseinanderdriften keine Rede sein. Die Lohnschere öffne sich «immer extremer»: Während der Medianlohn zwischen 1998 und 2008 teuerungsbereinigt um 3,1 Prozent anstieg, legten die «hohen Löhne» (gemeint sind die Löhne an der Grenze zu den einkommensstärksten zehn Prozent) in dieser Zeit um 10,3 Prozent zu. «Tiefe Löhne» (gemeint sind diejenigen an der Grenze zum einkommensschwächsten Viertel) verzeichneten derweil nur einen Zuwachs von 2 Prozent (siehe Grafik in der Bildstrecke). Im obersten Lohnprozent wuchs das Einkommen derweil um über 20 Prozent und übertraf somit den Produktivitätszuwachs in dieser Zeit deutlich.
Vorsicht bei Statistiken
Der SGB-Verteilungsbericht bietet Anlass zu weiteren Relativierungen – wir haben dazu in der obigen Bildstrecke einige Grafiken angefügt. Aus der Gegenüberstellung der Berichte mag ein jeder selbst seine Schlüsse ziehen. Eine Erkenntnis bleibt aber gewiss: Trauen Sie keiner Statistik – schon gar nicht, wenn sie von einem der Interessenverbände stammt.
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