Trütsch-Interview: «Wie ein bunter Abend im Skilager»
Hanspeter Trütsch berichtet seit Jahrzehnten aus dem Bundeshaus. Er hat die Verwandlung der «Nacht der langen Messer» in einen Mythos hautnah miterlebt.

Sie berichten seit bald 40 Jahren für den Rundfunk über Politik. Können Sie sich noch an Ihre erste Bundesratswahl erinnern?
Meine erste Wahl als Fernsehkorrespondent erlebte ich 1998, als Pascal Couchepin Nachfolger von Jean-Pascal Delamuraz wurde. Beim Radio ist das alles schon ein wenig länger her: Das war die Wahl von Otto Stich im Jahr 1983.
Die ursprüngliche «Nacht der langen Messer»! Wie haben Sie das erlebt?
Das war schon eine wahnsinnige Geschichte damals. Das Unbehagen der Bürgerlichen mit der offiziellen SP-Kandidatin Lilian Uchtenhagen führte dazu, dass in dieser legendären «Nacht der langen Messer» Otto Stich als Gegenkandidat aufgebaut und dann auch gewählt wurde. Stich sass damals nicht mehr im Parlament und musste nach der Wahl mit Polizeieskorte von seinem Arbeitsort in der Region Basel ins Bundeshaus zur Vereidigung gefahren werden. Für die SP wurde die Nichtwahl ihrer Kandidatin zu einer Zerreissprobe rund um die Frage über den Rückzug aus dem Bundesrat.
Und seither ist die «Nacht der langen Messer» ein Mythos.
In meinem Büro hängt eine Karikatur einer welschen Zeitung, auf der man einen Zuschauer sieht, der sich zu Hause vor dem Fernseher die Augen aussticht – darunter der Kommentar «Mort d'ennui», Tod aus Langeweile. Das trifft es ja eigentlich nicht schlecht. Die «Nacht der langen Messer» ist vor allem ein Medienhype.
«Alle sind froh, wenn sie einmal etwas inszenieren können.»
Wie kam es zu diesem Hype?
Er entstand gleichzeitig mit der verschärften Konkurrenz zwischen den Medien, vor allem zwischen den elektronischen Medien. Mitte der 1980er-Jahre tat sich gerade bei den Radios viel. Und dann muss man halt sagen: Die Schweizer Innenpolitik ist über alles gesehen nicht so spannend. Da sind alle froh, wenn sie einmal etwas inszenieren können.
Eine Inszenierung, an der sich auch die Politiker gerne und rege beteiligen.
Das gibt ja auch etwas her, so ein Abend im Hotel Bellevue, alleine vom Ambiente! Da ist Glamour drin. Als Vorwahlparty, als gesellschaftliches Ereignis ist die «Nacht der langen Messer» wichtiger geworden. Das liegt wohl auch daran, dass der Parlamentsbetrieb anders funktioniert als zu meinen Anfangsjahren hier. Damals rückten die Parlamentarier viermal jährlich nach Bern zur Session ein und blieben dann auch drei Wochen durchgehend hier. Zwischen Sitzungen ging man jassen, abends in die Bar.
Zumindest die Abende in den Bars gibt es heute immer noch.
Aber nicht mehr im gleichen Ausmass. Heute reisen sehr viele Parlamentarier abends heim, selbst Leute, die nicht in der Nähe von Bern wohnen. Oder sie machen auch nach Feierabend weiter Politik. Derzeit macht gerade wieder fast jeder Parlamentarier abends noch Abstimmungskampf irgendwo.
Es geschehen während dieser Nacht manchmal tatsächlich lustige Dinge. Ein ehemaliger Arbeitskollege von uns wurde einmal von einer Nationalrätin liebevoll mit Weisswurst gefüttert. Was sind Ihre liebsten Anekdoten?
Ich bin solchen Situationen eher ausgewichen, das hat mich nie interessiert. Und wie gesagt, politisch wurde diese Nacht schon öfter überschätzt. Der Überraschungseffekt bleibt in der Regel aus. Aber es gibt sie natürlich, die wenigen Male, wo die Bundesratswahl tatsächlich noch am Vorabend entscheidend beeinflusst wurde. Die Abwahl von Christoph Blocher zum Beispiel. Allerdings fanden da die entscheidenden Absprachen anderswo statt, in Fraktionssitzungen und per SMS.
Bundesräte werden heute Abend also keine gemacht – aber dafür gibt es Annäherungen über die politischen Grenzen hinweg?
Natürlich. Der Anlass zeigt auch, wie klein die Schweiz ist. Von der Stimmung her erinnert mich das ein wenig an den bunten Abend im Skilager. Und es ist wohl auch gesellschaftliche Kompensation dafür, dass der Politbetrieb insgesamt sehr viel ernsthafter und trockener abläuft als früher. Ausserhalb des jährlichen Fraktionsausflugs sehen sich viele Politiker ja nur noch selten in geselliger Funktion. Insofern hat der heutige Abend auch etwas Sympathisches.
Politbüro: Der Tagi-Talk zur Bundesratswahl
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