«‹Trump, Le Pen und Petry sind böse› – diese Reaktion ist dumm»
Warum nur ein linker Populismus die Demokratie noch vor dem Neoliberalismus und den nationalistischen Rechten retten kann. Dazu Verleger Jakob Augstein.

Alle reden vom Rechtspopulismus, Sie fordern einen linken Populismus als Antwort. Warum?
Populismus ist nicht schlecht. Nur der schlechte Populismus ist schlecht. Jede Politik, die in offenen Gesellschaften gemacht wird und keine Eliten- oder Experten-Politik ist, muss populistisch sein – das heisst, sich ans Volk wenden und sich dem Volk erklären. Der Zusatz «istisch» verkehrt den Begriff zu Unrecht ins Negative, macht ihn zu einem Kampfbegriff, mit dem man andere abwertet.
Populistisch wird oft mit extrem oder gefährlich gleichgesetzt.
Politik wird schnell als populistisch diffamiert, wenn man sich etwas vom Leib halten will. Politiker, die dem Volk aufs Maul schauen und die Sprache des Volks sprechen, sind nicht deswegen schlechte Politiker. Schlechte Politiker sind sie, wenn sie schlechte Politik machen.
Populismus sei Widerstand, sagen Sie.
Der Erfolg der Rechtspopulisten ist nur deshalb so gross, weil er berechtigt ist. Wenn Sie eine politische Kraft entstehen sehen, hat das immer einen Grund. Linke und Liberale regen sich lieber auf – «Trump ist böse, Le Pen ist böse, Petry ist böse» – statt zu überlegen, was das mit ihnen zu tun hat. Ich finde diese Reaktionen enttäuschend und dumm, ja gefährlich.
Worauf antwortet Populismus?
Auf Krisen. Unsere Demokratie steckt in einer Repräsentations- und Legitimationskrise. Auch wenn sie daraus sehr verschiedene Schlüsse ziehen, können sich rechte und linke Populisten vielleicht auf eine grundlegende Analyse einigen. Die Eliten haben in den letzten 30 Jahren einen schlimmen Deal abgeschlossen: Wir setzen uns für gesellschaftliche Freiheit ein, jeder soll machen, was er will. Das Individuum kann sich entfalten – und der Markt gleich mit. An diesem Deal findet der Kapitalist in Zürich genauso Gefallen wie der grüne Architekt in Berlin. Das nennt sich liberale Marktwirtschaft. Das Problem ist nur, dass bei diesem Deal 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung fallen gelassen werden – und zwar nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und ideell.
Wie das?
Die Menschen, die unsere Büros putzen, für uns Lastwagen fahren, unsere Pakete packen, haben Jobs, die nur knapp über dem Mindestlohn bezahlt werden und meist keinerlei Perspektive mehr bieten. Sie wissen, dass sie aus diesen Jobs kaum mehr herausfinden, egal, was sie leisten. Dem Architekten in Berlin, der bei Amazon sein Paket bestellt, ist das egal. Es interessiert ihn einfach nicht. Und den Politikern sind diese Leute bis vor kurzem auch egal gewesen, weil sie gar nicht mehr wählen gingen.
Ist das ungerechte Wirtschaftssystem, wie Sie es nennen, der tiefere Grund für Krise und Populismus?
Ich werfe dem Kapitalisten nicht vor, dass er reich werden möchte. Das ist schon in Ordnung. Aber die Politik muss das Gemeinwohl im Auge haben. Wir haben dieses Gemeinwohl zu lange mit dem Wohl der Wirtschaft verwechselt. Die Selbstermächtigung der Politik in dieser Hinsicht steht noch aus.
Was meinen Sie damit?
Grosse Krisen führen oft dazu, dass Politik sich radikal wandelt. Nach Fukushima war in Deutschland eine grosse Mehrheit der Ansicht: «Ein gutes Gefühl bei der Kernkraft hatten wir schon vorher nicht. Aber jetzt ist Schluss!» Da hat die Politik gezeigt, was sie kann, gegen alle Widerstände, mit allen Konsequenzen. Das Finanz-Fukushima von 2007/2008 hatte keine vergleichbaren Folgen. Wir haben das «Monster der Kapitalmärkte», wie es der damalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler nannte, nicht wirklich gezähmt, nur ein bisschen eingehegt.
Die neuen Rechten sahen in der Flüchtlingskrise ein solches Ereignis: «Jetzt ist Schluss», sagten sie. «Wir wollen nicht nur diese Flüchtlinge nicht, sondern überhaupt keine Einwanderung mehr!»
Die Flüchtlingskrise stellte die Identitätsfrage, am virulentesten in Ostdeutschland. Menschen, deren Heimatsgefühl bereits angeschlagen war, fühlten sich von der Einwanderung persönlich betroffen, auch wenn sie oft gar nie einen Syrer zu Gesicht bekommen haben.
Und in der Wirtschaft?
Die Selbstermächtigung der Politik gegen eine Wirtschaft, die den Menschen ihre Selbstbestimmung und ihre Würde raubt, steht noch aus. Dafür bräuchte es eben diesen linken Populismus, von dem ich spreche. Die Populisten von links müssten sich an das Volk wenden und ihm einen neuen Deal vorschlagen, einen neuen Gesellschaftsvertrag. Das Populistische bestünde darin, dass die linken Politiker die alten Eliten dabei übergehen, wie ein König den Adel überspringt und direkt zum Volk spricht, an Eliten und Experten vorbei, um das Gemeinwohl neu zu definieren. Als ein Wohl, das zuallererst auf Solidarität fusst.
Klingt abenteuerlich, ja revolutionär.
Ja, das wäre eine Revolution. Und es wäre ohne Zweifel ein gefährlicher Prozess, weil bei einem solchen Vorgehen viele Filterstufen bewusst ausgeschaltet würden. Aber da die jetzige Situation die Folge eines Elitenversagens ist, ist es möglich, dass nur durch einen solchen Bruch echte Erneuerung entstehen kann. Das kann natürlich schief gehen, es kann aber auch gelingen.
Donald Trump steht für einen solchen Bruch.
Ja, Donald Trump betreibt genau das in den USA: eine neue Definition von Gemeinwohl. Wir verachten es, weil es nicht unseren Werten und Vorstellungen entspricht. Aber es ist ein absichtsvoller Bruch. In Deutschland wird im Moment der Sozialdemokrat Martin Schulz gehandelt, als könne er über Wasser laufen. Vielleicht kann daraus etwas Neues entstehen.
Ist Schulz ein linker Populist?
Ich glaube schon, jedenfalls für deutsche Verhältnisse.
Warum glauben Sie, dass der linke Populismus dem rechten Populismus effizienter entgegentreten kann als die liberale Mitte?
Weil Sie ein starkes Gefühl nur mit einem starken Gefühl bekämpfen können, nicht mit dem Verstand. So sagt es die Politologin Chantal Mouffe. Politik ist ein emotionales Geschäft, und das ist auch gut so.
Das Problem mit den Emotionen in der Politik ist doch, dass dabei Angst und Hass der Menschen nicht nur aufgenommen, sondern mit Absicht geschürt werden: rechts gegen die Fremden, links gegen die Reichen. Wie soll daraus Gutes entstehen?
Ihre Frage tut so, als würde Politik sonst nicht mit Ängsten arbeiten. Tut sie aber. Politik ist grundsätzlich populistisch.
Soll Empörung der Grundtreibstoff der politischen Auseinandersetzung sein?
Nein, auch Hoffnung taugt dafür. Hoffnung auf Veränderung.
«Es ist ein Unterschied, ob jemand eine positive oder eine negative Vision vorbringt.»
Diese Hoffnung hegen die rechten Populisten auch.
Ich halte diesen ewigen Hang, links und rechts gleichzusetzen, für falsch. Für mich macht es einen entscheidenden Unterschied, ob jemand eine positive oder eine negative Vision vorbringt. Ob Sie, wie die Linke, Politik gegen Starke machen oder, wie die Rechte, gegen Schwache. Wer sich in der Politik zusammenschliesst, um gemeinsam einen Widerstand zu überwinden, den ein Einzelner nicht überwinden kann, der hat nur recht, wenn er sich für die Schwachen einsetzt – nicht wenn er sich gegen sie wendet. Darin unterscheiden sich linke und rechte Politik fundamental. Ich finde es ethisch vertretbarer, den Banken Geld wegzunehmen, als dem Syrer, der aus Aleppo geflohen ist, die Einreise zu verweigern. Es ist ethisch und journalistisch nicht lauter, das auf eine Stufe zu setzen.
Wie wichtig sind für Populisten charismatische Führungspersönlichkeiten?
Charisma ist in der Politik grundsätzlich wichtig. Nochmals: Ich mache diese Trennung zwischen populistisch und politisch nicht mit. Wer mit ihr hantiert, macht bereits Politik. Auch Angela Merkel ist eine populistische Politikerin!
Es gibt kaum einen Mächtigen in der Politik, der spröder und Gefühlen gegenüber abgeneigter wäre als sie.
Merkels «Sie kennen mich», mit dem sie 2013 die Wahl gewann, oder ihr «Wir schaffen das» in der Flüchtlingskrise waren purer Populismus. Ihr Populismus ist nur subtiler. Sie kann Sätze sagen, die glasklar sind. Und im nächsten Moment scheint sie wieder alle Intelligenz darauf zu verwenden, ihre Sätze so zu verdrehen, dass danach niemand mehr weiss, was sie gesagt hat. Ich glaube, dass sie beides mit Absicht tut. Beides halte ich für populistische Strategien.
Wer soll den linken Populismus eigentlich anführen, der Ihnen vorschwebt? Die Anti-Kapitalistin Sahra Wagenknecht, die gegen Flüchtlinge, gegen die EU, gegen Globalisierung und für Russland polemisiert? Oder, um in Deutschland zu bleiben, der Sozialdemokrat Schulz, der für Flüchtlinge, für die EU, für Freihandel und für die USA eintritt?
Bei allen Meinungsverschiedenheiten sehe ich eine entscheidende Gemeinsamkeit: Es geht darum, die Demokratie wiederherzustellen.
Warum sollte die gegenwärtig ausser Betrieb sein?
Weil der Transmissionsriemen zwischen der Bevölkerung und den Medien und zwischen der Bevölkerung und dem politischen Betrieb ausgeleiert ist. Weil Politik und Medien mittlerweile stärker ihre eigenen Interessen vertreten als die der Bürger. Darum ist es eben nicht nur ein Gag, wenn Sahra Wagenknecht durchs Land zieht und eine soziale Marktwirtschaft in der Tradition von Ludwig Erhard fordert, dem Vater des deutschen Wirtschaftswunders nach dem Krieg. Sie kann das tun, weil diese soziale Marktwirtschaft in Deutschland eben nicht mehr existiert. Doch wenn die Menschen sie nun zurückfordern, sagen die Eliten: «Ihr wollt zurück in die 60-er Jahre? Im Ernst jetzt?» Ja! Was die gesellschaftliche Gleichheit angeht, warum nicht? Fragen Sie mal die Bürger!
Bestünde der Kern des neuen Gesellschaftsvertrags also darin, den Sozialstaat wieder auszubauen?
Mir geht es mehr darum, Rechte und Würde wiederherzustellen, die der Neoliberalismus geschleift hat, als um Umverteilung. Transferzahlungen haben oft etwas Entwürdigendes.
Zurück zum Populismus: Wer leistet mehr für die demokratische Kultur: der Vereinfacher oder der Differenzierer?
Die Fähigkeiten schliessen sich nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig. Gut vereinfachen können Sie nur, wenn Sie eine Sache durch und durch verstanden haben. Also hat der, der den Sachverhalt auf den Punkt bringt, in der Politik mehr geleistet als der, der übers Differenzieren nicht hinaus kommt.
Bei Trump hat man bisher vor allem den Eindruck, dass er die Dinge einfach sieht, weil er sie nicht versteht.
Dann ist es eben schlechter Populismus. Deswegen muss er lügen. Die Thermodynamik seines Systems lässt sich nur ausgleichen, indem er die Leute permanent anlügt.
«Ist der Populist nicht aufrichtig, ist er nur noch ein Lügner.»
Das heisst, er verkauft die Leute für blöd, statt ihnen die Dinge zu vereinfachen.
Man muss zwischen Populisten und Lügnern unterscheiden. Die einen spitzen zu, unter Umständen, bis es weh tut, aber sie sagen nicht die Unwahrheit. Auch der Populist steht immer noch unter der ethischen Bedingung, aufrichtig zu sein. Ist er es nicht, ist er nur noch ein Lügner.
Gibt es irgendwo einen begabten linken Populisten, der Sie beeindruckt? Sanders, Iglesias, Corbyn, Wagenknecht?
Horst Seehofer ist ein begnadeter Populist. Er vertritt zwar nicht meine Meinung, aber ich habe Respekt vor seinem Talent. Es ist kein Zufall, dass er den Christlichsozialen angehört. Die sind in Bayern eine Staatspartei, die gezwungen ist, gnadenlos populistisch zu sein, will sie ihre Dominanz halten.
Die Rechten verfolgen die Utopie des Eigenen, die Linken die der Gleichheit – beide sind darin auf gewisse Weise reaktionär. Welche Rolle spielen Utopien in der heutigen Politik?
Ihre Charakterisierung der linken Utopie bestreite ich. Die Menschen haben kein Problem mit Ungleichheit, dass also der eine mehr und der andere weniger hat. Sie stören sich nur an der ungerechten Ungleichheit. Warum haben in Deutschland Kinder aus einem Akademikerhaushalt eine siebenmal grössere Chance, an der Uni zu landen, als andere Kinder? Weil sie klüger sind? Nein. Es liegt an den sozialen Umständen. Das ist ungerecht. Und dagegen muss man sich wehren.
Und die Sehnsucht nach Utopien?
Die linke Sehnsucht ist schon sehr alt und immer noch nicht eingelöst, was vielleicht kein Wunder ist. Interessant finde ich, dass die rechte Utopie gerade neu formuliert wird. In der europäischen Geistesgeschichte ist das nicht sehr neu, in Deutschland aber schon. Dieses Land kannte bisher keine rechten Intellektuellen. Knarzige Konservative gab es sehr wohl, mit knisterndem Kandis im Tee, Kaminfeuer, Ohrensessel und Cord-Anzug. Aber immer wenn einer von denen begann, sich deutschnational zu äussern, fiel er gleich aus der Gesellschaft, weil er die Balance nicht mehr halten konnte. Das ist vorbei. Ich finde es spannend zu verfolgen, wie rechte deutsche Intellektuelle derzeit ein genuin rechtes Gedankengebäude aufbauen, das nicht einfach neo-nazistisch ist. Die Aufgabe ist ziemlich anspruchsvoll. Was am Ende dabei herauskommt, ist zwar immer eklig, aber interessant finde ich den Weg durchaus.
Sind Sie als Linker eigentlich neidisch darauf, dass das revolutionäre Subjekt die Seiten gewechselt hat?
Und ob! Den Rechten gelingt, was die Linken nicht geschafft haben: Sie erzeugen eine revolutionäre Stimmung und beeinflussen die Politik, indem sie die Kultur verändern. Die neuen Rechten streben eine Hegemonie an. Und plötzlich beginnen die anderen, sich nach ihnen zu richten – obwohl die Rechtspopulisten keine Mehrheit in irgendeinem Parlament haben. Die Alternative für Deutschland ist längst eine erfolgreiche Partei, weit über ihre Stimmenzahl hinaus. Davon kann die Linkspartei nur träumen.
Gibt es für linken Populismus Tabus?
Er darf sich nie gegen Schwächere richten. Darum fliegen Sahra Wagenknecht ihre Spitzen gegen Flüchtlinge und Einwanderer immer gleich um die Ohren. So leicht dürfen Linke es sich nicht machen. Linker, positiver Populismus muss nicht nur richtig und gut sein, sondern auch schön. Er sollte eine gewisse Romantik ausstrahlen. Das klingt zwar gleich lächerlich, sobald man es ausspricht, aber ich meine es ernst.
In Frankreich und in Deutschland wäre die Linke regierungsfähig, wenn sie vereint auftreten würde. Stattdessen befehden sich die Parteien und ihre Flügel bitter. Warum fällt es den linken Populisten so viel schwerer zusammenzuspannen als den Rechten?
Ich weiss es nicht. Die Gräben sind tief, und Leute wie Oskar Lafontaine in Deutschland achten darauf, dass sie es auch bleiben. Das linke Politmilieu kommt mir vor wie eine Sphäre, wo radioaktive Isotopen immer weiter zerfallen, in immer wirkungslosere kleine Gruppen.
Das wütet der Narzissmus des kleinen Unterschieds, wie Freud es nannte. Nochmals: Warum bilden die nationalistischen Rechten heute eine starke Internationale, während die traditionell internationalistischen Linken zersplittert und hilflos wirken?
Vielleicht ist es ja kein Wunder, dass es so ist. Wir haben nun 30 Jahre neo-liberales Umerziehungsprojekt hinter uns, an den Universitäten, in den Unternehmen, in der Politik. Wenn Sie dagegen vorgehen wollen, brauchen Sie Geduld. Solche Kulturen entstehen langsam, und sie ändern sich langsam. Der Linken fehlt es für ihren Widerstand derzeit an einprägsamen Leitbildern. Die grosse Stärke der Neoliberalen war, dass ihnen glasklar war, was sie wollten. Es war ein Projekt, das man leicht beschreiben konnte und von dem viele enorm profitierten. Daran ist die Linke in den letzten 15 Jahren gescheitert. Um das zu ändern, braucht es einen linken Populismus.
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