Über Nacht war das Vertrauen in die Banken verloren
Vor 10 Jahren ging die US-Investmentbank Lehman Brothers in Konkurs. Es traf die Weltwirtschaft schlimmer als die Krise, die zur Grossen Depression geführt hat.

Am 15. September jährt sich zum zehnten Mal der Niedergang der US-Investmentbank Lehman Brothers. Wie kein anderes Ereignis steht er für die Finanzkrise, die damit zu ihrem Höhepunkt kam. Lehman war «nur» das viertgrösste Finanzinstitut der USA, aber es war die einzige grosse Bank, die tatsächlich in Konkurs ging. Ihr Untergang hat demonstriert, was «Too big to fail» (Zu gross, um unterzugehen) bedeutet. Diese Worte prägen bis heute jede Debatte um die Banken und ihre Regulierung.
Untergegangen ist Lehman aus den gleichen Gründen, die damals die ganze Finanzbranche gefährdet haben. Wie andere Institute ist die Bank extreme Risiken durch ihr Engagement in hochkomplexen und deshalb schwer bewertbaren Immobilienderivaten namens CDO (Collateralized Debt Obligation) eingegangen. Obwohl diese Anlagen teilweise aus verbrieften Hypotheken an praktisch zahlungsunfähige Kunden bestanden haben, wurden sie von den Ratingagenturen als risikolos ausgezeichnet und mit den höchsten Bonitätsnoten versehen.
Solchen langfristigen Anlagen, die vor allem in der Krise nur schwer und nur zu starken Abschlägen verkauft werden konnten, stand in der Bilanz der Bank eine extrem kurzfristige Finanzierung durch den Kapitalmarkt gegenüber – und extrem kleines Eigenkapitalpolster. Dank diesem Risiko konnte zumindest anfänglich eine hohe Rendite auf dem Eigenkapital erzielt werden, wie sie das Management damals gezielt anstrebte.
Wurde die Bank bewusst fallengelassen?
Die immer grössere Unsicherheit um die Bank im speziellen und um die Finanzbranche ganz allgemein seit dem Sommer 2007 führte zu einem raschen Wertverlust der fragwürdigen Anlagen der Bank, der das Eigenkapital rasch verzehrte. Gleichzeitig gelang es der Bank immer schlechter, sich am Markt noch Mittel zu verschaffen. Dies führte zu ihrem raschen Untergang.
Seit dem ersten Tag nach dem Lehman-Ende bis heute glauben noch immer viele, die Behörden hätten Lehman bewusst fallengelassen, um ein Exempel zu statuieren. Die Memoiren der wichtigsten damaligen Verantwortlichen erzählen eine ganz andere Geschichte: Sowohl Henry Paulson, damals Finanzminister unter George W. Bush, wie auch der damalige Chef der US-Notenbank Fed, Ben Bernanke, sowie Timothy Geithner – damals Chef des Fed von New York und ab 2009 Finanzminister unter Barack Obama – beschreiben in ihren später erschienenen Büchern ausführlich, wie sie sich in den Wochen vor dem Zusammenbruch intensiv um eine Lösung für die bereits ins Strudeln geratene Bank bemüht hätten.
Vorbild für die geplante Lehman-Rettung war jene von Bear Stearns ein halbes Jahr früher im März 2008. Die kleinere Investmentbank hätte sonst ebenfalls die Tore schliessen müssen. Die US-Regierung und das Fed konnten das verhindern – mit einer zumindest vordergründig «privaten» Lösung. Bear Stearns wurde am 16. März von der deutlich grösseren JP Morgan Chase zum Preis von nur zwei Dollar pro Aktie übernommen – zwei Tage früher, am letzten Handelstag, lag deren Wert noch bei 31 Dollar. Der gesamte Übernahmepreis belief sich damit auf 236 Millionen Dollar. Die US-Notenbank bürgte dafür für sämtliche Verlustrisiken bis zu einem Wert von 29 Milliarden Franken. JP Morgan verpflichtete sich nur zur Übernahme von einer Milliarde Dollar an potenziellen Verlustrisiken.
Ein neuer Begriff machte die Runde: «Too interconnected to fail.»
Für diesen ersten massiven Einsatz öffentlicher Gelder während der Finanzkrise wurden die Regierung und die Notenbank damals heftig kritisiert. Mit solchen Rettungen würde man die Banker zu riskantem Handeln ermutigen, denn wenn die Wetten aufgehen, kassieren sie ab, wenn nicht, bezahlt die Öffentlichkeit.
Bei Lehman war trotz massiver Bedenken vonseiten der Regierung eine ähnliche Rettung geplant. Auch hier stand mit der britischen Barclays eine Retterbank buchstäblich im letzten Moment bereit – unterstützt von Darlehen anderer Banken und der Notenbank. Doch die britische Bankenbehörde und die Regierung wollten dieses Risiko nicht eingehen. Damit war der Untergang nicht mehr zu verhindern.
Anfänglich wurden die Behörden für ihren vermeintlichen Entscheid in der Öffentlichkeit gefeiert, die Bank fallen zu lassen und ein Zeichen zu setzen – obwohl das nie ihre Absicht war. Doch sehr schnell zeigten sich die dramatischen Folgen: Die schockierende Einsicht, dass auch grosse Banken untergehen können, hat der ganzen Branche das verbliebene Vertrauen über Nacht entzogen. Wenn man nicht weiss, wer der Nächste sein kann, leiht man nichts mehr aus. Und genau das geschah. Die Kapitalmärkte froren ein. Das galt selbst für die sehr liquiden Geldmärkte, die nicht nur für die kurzfristige Finanzierung der Banken, sondern auch anderer Unternehmen entscheidend waren.
Die Katastrophe stellte sogar jene in den Schatten, die zur Grossen Depression geführt hat.
Und der ungeordnete Zusammenbruch von Lehman hinterliess ein Chaos. Ein neuer Begriff machte die Runde: «Too interconnected to fail», (zu verbandelt, um zu scheitern). Alle Institute, die mit der Bank im Geschäft waren, mussten nun selbst Abschreiber vornehmen.
Doch alleine den Schaden zu beziffern, war ein äusserst kompliziertes Unterfangen, das noch Jahre in Anspruch nehmen sollte. Und Derivatprodukte, die die Bank weltweit emittiert hat und für die sie hätte geradestehen müssen, mussten abgeschrieben werden. Das betraf auch Tausende von Kunden in der Schweiz, die solche Produkte bei anderen Banken, vor allem der Credit Suisse, gekauft hatten.
180 Milliarden Dollar für den Versicherer AIG
Fast unmittelbar nach dem Bankrott von Lehman drohte auch der weltgrösste Versicherer AIG einzubrechen, von dem eine Abteilung die erwähnten sich nun massiv entwertenden Immobilienprodukte (CDO) versichert hat. Dessen Rettung erschien nun zwingend, um ein Massensterben von Banken weltweit zu verhindern. Für die Rettung des Unternehmens wendeten die Notenbank und die Regierung die gigantische Summe von 180 Milliarden Dollar auf. Aber auch weitere Institute wurden gerettet oder vereint. Im Oktober musste in der Schweiz die Grossbank UBS durch den Staat und die Nationalbank gestützt werden.
Der plötzliche Stopp der Finanzströme hatte unvermeidlich auch schlimme Folgen für die Realwirtschaft. Unternehmen und Private horteten Cash und stoppten Investitionen. Der Welthandel brach ein und die Lager schwollen an. Es kam zur schlimmsten Rezession weltweit seit der Grossen Depression der 1930er-Jahre mit einer fast überall stark steigenden Arbeitslosigkeit. Die Katastrophe stellte sogar jene in den Schatten, die zur Grossen Depression geführt hatte. Dass die Folgen für die Finanzwelt und die Realwirtschaft trotzdem nicht so dramatisch waren, lag nur am entschiedenen Eingreifen der Notenbanken, die in vielen Ländern – auch in der Schweiz – die gesamte Geldversorgung direkt übernommen haben – und an massiven Stützungspaketen auch durch Steuergelder.
Die Folgen der Krise und der Rettung beschäftigen uns bis heute – in Form einer massiv weiter gestiegenen Verschuldung und der nach wie vor äusserst expansiven Geldpolitik in vielen Ländern inklusive der Schweiz
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