Raketeneinschlag in PolenNato sieht keine Hinweise auf russischen Angriff
Zwei Menschen sterben in Polen bei einem Raketenbeschuss. War es ein Angriff aus Russland – oder eine ukrainische Abwehrrakete? Alle Informationen im Überblick.
In Polen sind am Dienstag bei einer Explosion zwei Menschen ums Leben gekommen. Der Detonationsort Przewodow liegt nahe der Grenze zur Ukraine. Die Lage ist besonders heikel, da Polen Nato-Mitglied ist – und die Allianz seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mehrfach betont hat, «jeden Zentimeter» des Bündnisgebiets verteidigen zu wollen.
Die Nato geht davon aus, dass die Explosion von einer Rakete ausgelöst wurde. Am Mittwoch versicherte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass es keinen Hinweis auf einen vorsätzlichen Angriff auf Polen gebe.
Bereits tags zuvor hatte US-Präsident Joe Biden erklärt, dass es sich um eine ukrainische Abwehrrakete gehandelt haben könnte. Am Mittwoch sagte auch Polens Präsident Andrzej Duda, dass es sich nicht um einen gezielten Angriff auf das Nato-Land gehandelt habe. Laut Duda gebe es auch keine Beweise dafür, dass die Rakete von Russland abgefeuert worden sei, sondern es handele sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine ukrainische Flugabwehrrakete, sagte Duda in Warschau.
Die Lage ist noch nicht ganz geklärt. Was ist bekannt, was nicht?
Was wir wissen
Im Dorf Przewodow hat es eine Explosion gegeben. Der polnischen Regierung zufolge ereignete sie sich um 15.40 Uhr Ortszeit am Dienstag und war im Umkreis von etwa 15 Kilometern zu hören.
Przewodow liegt im Südosten Polens, gut sechs Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. Die Detonation fand auf einer landwirtschaftlichen Anlage statt. Ein Landwirt, der Mais zum Wiegen brachte, und ein Mitarbeiter eben dieses landwirtschaftlichen Unternehmens, kamen ums Leben.
Auf einem Foto ist ein Traktor mit umgekipptem Anhänger zu sehen. Unter dem Anhänger befindet sich ein Krater. Hinter dem Anhänger liegt gelbes Schüttgut, bei dem es sich um Mais handeln könnte.

Den gesamten Dienstag über war die Ukraine schwerem Beschuss durch Russland ausgesetzt – wohl dem schwersten seit Kriegsbeginn. Militärangaben zufolge feuerte Russland etwa 100 Raketen auf Dutzende ukrainische Städte, die meisten davon wurden durch die Luftverteidigung abgefangen. Vor allem der Norden und das Zentrum des Landes waren von den Angriffen betroffen, aber auch in der Region Lwiw im Westen der Ukraine gab es Explosionen. Die Stadt liegt rund 60 Kilometer von der Grenze zu Polen entfernt – und nur 70 Kilometer von Przewodow.
Das russische Verteidigungsministerium versuchte den massiven Raketenangriff auf die Energieversorgung der Ukraine mit deren angeblicher militärischer Bedeutung zu rechtfertigen. Ziel der Attacke seien «das militärische Kommandosystem der Ukraine und die damit verbundenen Energie-Anlagen» gewesen, sagte Sprecher Igor Konaschenkow am Mittwoch in Moskau. Russland habe die Raketen am Vortag von Flugzeugen und von Schiffen aus abgeschossen. Das Ziel des Angriffs sei erreicht worden, sagte er.
In Polen hielt zunächst der Nationale Sicherheitsrat eine Krisensitzung ab, danach die Regierung. Das Land hat als Reaktion auf den Vorfall einen Teil seiner Streitkräfte in erhöhte Bereitschaft versetzt. Warschau bestellte zudem den russischen Botschafter ein und alarmierte die Nato. Ein Regierungssprecher erklärte anschliessend, man habe mit den Nato-Verbündeten beschlossen, zu überprüfen, ob es Gründe gebe, die Verfahren nach Artikel 4 des Nato-Vertrags einzuleiten.
Aufgrund des Vorfalls traf sich die Nato am Mittwochmorgen zu einer Krisensitzung. An dem Treffen nahmen die Staats- und Regierungschefs der sieben grossen westlichen Demokratien (G-20) sowie andere Nato- und EU-Staaten teil. «Wir bieten Polen unsere volle Unterstützung und Hilfe bei den laufenden Ermittlungen an», hiess es danach in einer Erklärung. «Wir verurteilen die barbarischen Raketenangriffe, die Russland am Dienstag auf ukrainische Städte und zivile Infrastrukturen verübt hat.»
Was noch unbekannt ist
Ist die mutmasslich russische Rakete womöglich abgelenkt worden? Schlug die Rakete im Ganzen ein oder handelte es sich um Trümmerteile?
Auch die Anzahl der Flugkörper war nach den ersten Meldungen nicht klar. Zunächst hatte ein örtlicher Radiosender berichtet, dass zwei verirrte russische Raketen in dem Ort eingeschlagen seien. Wenig später zitierte die Nachrichtenagentur AP einen nicht namentlich genannten Vertreter aus US-Geheimdienstkreisen, der ebenfalls von russischen Raketen als Ursache für die Explosion sprach.
Joe Biden geht jedoch davon aus, dass es sich bei der Rakete um einen Flugkörper der ukrainischen Luftverteidigung gehandelt habe. Nach dem Krisentreffen der Nato erklärte er öffentlich, die in Polen nahe der ukrainischen Grenze eingeschlagene Rakete sei wahrscheinlich nicht von Russland aus abgefeuert worden. Er verwies auf Informationen über die Flugbahn, die ihm vorlägen. Polen werde dafür sorgen, «dass wir herausfinden, was genau passiert ist», sagte Biden. «Und dann werden wir gemeinsam unseren nächsten Schritt bei der Untersuchung und dem weiteren Vorgehen festlegen.»

Internationale Reaktionen
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski sagte über den Raketeneinschlag in Polen: «Dies ist ein russischer Raketenangriff auf die kollektive Sicherheit!» Kiew drängt nach dem Einschlag der Rakete auf polnischem Gebiet auf die Einrichtung einer Flugverbotszone. «Wir bitten darum, den Himmel zu schliessen, weil der Himmel keine Grenzen hat», schrieb Verteidigungsminister Olexi Resnikow auf Twitter.
Der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba bezeichnete die Hypothese, dass eine ukrainische Abwehrrakete die Explosion ausgelöst habe, als «Verschwörungsmärchen». Niemand solle diese «russische Propaganda» glauben und verbreiten, schrieb er auf Twitter.
Aus Moskau kam ein scharfes Dementi. Das russische Verteidigungsministerium bezeichnete die Berichte als bewusste Provokationen. Diese hätten das Ziel, die Situation zu eskalieren, zitiert die Nachrichtenagentur Interfax das Ministerium. Es seien keine Angriffe mit russischen Waffen auf Ziele nahe der polnisch-ukrainischen Grenze ausgeführt worden.
Deutschlands Kanzler Scholz sagte nach dem G20-Gipfel: «Jede voreilige Festlegung über den Tatsachenverlauf vor seiner sorgfältigen Untersuchung verbietet sich bei einer so ernsten Angelegenheit.» Wie andere Staats- und Regierungschefs betonte Scholz, die Ursache des Einschlags dürfe nicht aus dem Blick geraten. Dieser wäre nicht passiert «ohne den russischen Krieg gegen die Ukraine, ohne die Raketen, die jetzt intensiv und in grossem Ausmass auf die ukrainische Infrastruktur verschossen werden».
Der britische Premierminister Rishi Sunak sagte, die Ukraine setze Raketen ein, um sich «gegen eine illegale und barbarische Angriffsserie Russlands verteidigen».
Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan forderte Aufklärung. Laut türkischer Kommunikationsdirektion betonte er jedoch auch, er müsse die Aussagen Russlands respektieren, nichts mit dem Einschlag zu tun zu haben. Erdogan hatte sich mehrfach als Vermittler im russischen Krieg in der Ukraine angeboten.
AFP/SDA/red/SZ
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