Ulrich Tilgner: «Ich habe nie eine Risikozulage erhalten»
TV-Journalist Ulrich Tilgner berichtet aus den Kriegsgebieten Afghanistan und Irak. Im Interview erzählt er, wie er mit der ständigen Gefahr umgeht – und welche Fehler tödlich sind.

Mit Ulrich Tilgner sprach Philipp Mäder
Sie sind zurzeit auf Reportage in Afghanistan. Wie viel ist dort Ihr Kopf wert? Hier in Kabul gibt es zwar eine Entführungsindustrie wie im Irak. Aber es sind vor allem Afghanen – Kinder von Reichen – die gekidnappt werden, um Geld zu erpressen. Manchmal foltern die Entführer ihre Opfer und schicken den Angehörigen Fotos zu. Das Lösegeld beträgt dabei zwischen 50'000 und 300'000 Dollar.
Ausländer werden nicht entführt? Es wurden Ausländer entführt, die in Kabul Geschäfte machten und dabei Konkurrenten in die Quere kamen. Auch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen waren betroffen. Dabei wird zwar ebenfalls ein Lösegeld bezahlt. Aber der Grund für die Entführung ist nicht die fremde Nationalität.
Treffen Sie trotzdem Vorsichtsmassnahmen gegen eine Entführung? Ja, man kann nie wissen, ob man jemanden verärgert hat. Ich bewege mich deshalb so, dass mein Verhalten nicht voraussehbar ist: Ich kündige nicht an, wo ich hingehe. Und ich verlasse das kleine Hotel, in dem ich wohne, nicht immer um neun Uhr morgens. Das wäre eine Einladung für Entführer, denn die planen ihre Tat und spähen die Opfer aus.
Wie minimieren Sie die Risiken, wenn Sie ins Land hinaus fahren? Ich arbeite in den kommenden Tagen in einer afghanischen Provinz an der Grenze zu Pakistan. Dabei müssen wir eine Strasse benutzen, die Aufständische mehrmals beschossen haben. Wir fahren dort mit einem einfachen kleinen Auto. Sicherheitsorganisationen fahren in grossen Wagen, selbst einige Hilfsorganisationen nutzen gepanzerte Fahrzeuge. Diese sind erkennbar und deshalb immer öfter Ziel der Anschläge. In unserem kleinen Wagen hingegen dürfte uns nichts passieren. Aufständische und Terroristen schiessen ja nicht auf jedes Auto.
Wie hoch ist das Risiko in der Provinz, in die Sie fahren? Dort muss ich mich ganz anders verhalten als in Kabul. Ich brauche eine angesehene Kontaktperson, die für meine Sicherheit bürgt. In Gebieten, wo der afghanische Staat keine Kontrolle mehr hat, könnte ich sonst nicht arbeiten.
Woher kennen Sie diese Kontaktpersonen? Das ist eine Arbeit von Jahren. In der Provinz, in die ich jetzt fahre, kenne ich einen ehemaligen Kommandanten, der Ende der 80er-Jahre gegen die Sowjetunion gekämpft hat. Ich hatte ihn vor langer Zeit interviewt und ihm eine Videokassette der Sendung gegeben. Er hat mich dann eingeladen, beim nächsten Besuch bei ihm zu essen und mit ihm in die Berge zu gehen. Er wird mir zeigen, auf welchen Wegen die Taliban von Pakistan nach Afghanistan einsickern. Ein Kommandant, den ich nicht kenne, würde das nie machen. Dazu braucht es Vertrauen.
Wie kann dieser Kommandant für Ihre Sicherheit garantieren? Im Grenzgebiet zu Pakistan gibt es viele Stammesführer, die sich zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban neutral verhalten. Die Taliban tun diesem Kommandanten nichts, weil er nicht gegen sie vorgeht. Wenn ich sein Gast bin, geniesse auch ich seinen Schutz.
Daran halten sich die Taliban? Leider funktionieren diese Mechanismen nicht mehr wie früher: Taliban und al-Qaida haben die Wertestruktur der Stämme untergraben. Das macht die ganze Geschichte etwas unberechenbar. Wenn früher ein Stammeschef etwas sagte, waren alle Mitglieder des Stammes daran gebunden. Heute fühlen sich einige, meist junge Stammesangehörige politischen Organisationen verpflichtet und halten sich nicht mehr an den Ehrenkodex des eigenen Stammes.
Das erhöht das Risiko für Sie? Ja, hier in Afghanistan wird es immer gefährlicher. Im Irak hingegen sinkt das Risiko, weil die US-Streitkräfte und die irakischen Sicherheitskräfte die al-Qaida vertreiben. Viele Terroristen kommen nun nach Afghanistan und setzen hier ihre Arbeit fort.
Wann wird für Sie das Risiko zu gross, um in die afghanischen Provinzen zu fahren? Das kann ich schlecht sagen. Aber vor zwei Jahren war ich noch in der Provinz Vardak. Heute würde ich da sicher nicht mehr hinfahren. Und die Zeiten, in denen Ausländer im Stadtpark von Kabul joggen gehen konnten, sind auch vorbei.
Wurden Sie einmal Opfer von Gewalt? Im Irak wurde ich einmal ausgeraubt. Ein Wagen hat uns von der Strasse abgedrängt und gestoppt. Der Kameramann hat die Pistole an die Schläfe bekommen und ich eine Kalaschnikow in den Bauch. Das Geld war weg, aber uns ist nichts passiert.
Entführt wurden Sie nie? Es gab heikle Situationen, in denen ich nicht wusste, was die Leute wollten. Einmal ist auf dem Markt von Falluja im Irak eine Gruppe von Bärtigen, wahrscheinlich Saudi, in immer engerem Kreis um uns herumgegangen. Da habe ich es geschafft, sie anzusprechen und zu interviewen. Danach hat unser irakischer Begleiter gesagt, wir seien knapp einer Entführung entkommen.
Wie bringt man solche Leute dazu, ein Interview zu geben anstatt einen zu entführen? Als Journalist zieht man oft Aggressionen auf sich. Meist kann man den Menschen erklären, dass sie ihre Kritik besser in die Kamera sagen, als uns zu bedrohen. Wenn man das Gespräch sucht, ist das Eis gebrochen und die Gefahr geht zurück. Das ist eine Arbeitstechnik, die man entwickeln muss, um Spannungen abzubauen.
Haben Sie in solchen Situationen Angst? Sie dürfen niemals ängstlich auf Aggressionen reagieren. Wenn ich Angst zeige, habe ich die Auseinandersetzung schon verloren.
Und innerlich? Entweder ist die Angst da, wenn ich mir überlege, ob ich irgendwo hingehen soll. Aber wenn ich dann dort bin, darf ich keine Angst haben. Hinterher habe ich schon manchmal gedacht: Ups, war es wirklich richtig, das zu tun?
Erhalten Sie eine Risikozulage, wenn Sie in Afghanistan arbeiten? Nein. Ich habe nie eine Risikozulage erhalten. Als ich im Irak-Krieg war, dachten alle, ich verdiene jetzt viel mehr. Aber ich habe nicht einen Rappen mehr bekommen.
Jährlich kommen Dutzende von Journalisten in Krisengebieten um. Weshalb können Sie sich dort seit Jahren bewegen, ohne dass Ihnen etwas passiert? Man braucht eine extreme Vorbereitung, aber auch Glück. Wirklich gefährdet sind die einheimischen Journalisten. Jene, die für die eine Seite arbeiten, werden von der anderen Seite umgebracht. Im Irak gibt es richtige Rachefeldzüge gegen Mitarbeiter der Medien.
Es kommen auch westliche Journalisten um. Es gibt leider Journalisten, die sehr unvorsichtig sind. Dabei muss man dieses Handwerk seriös lernen und Erfahrung sammeln. Manche fahren in Krisengebiete, ohne die dortige Kultur zu kennen oder wirklich Erfahrung zu haben. Das kann ins Auge gehen.
Was sind die klassischen Fehler unerfahrener Journalisten? Sie glauben, sich zwischen den Fronten bewegen zu können. Doch dann sagt ihnen niemand, wenn sie aufpassen müssen. Man braucht immer Leute aus der Region. Aber man muss darauf achten, dass man nicht die potenziellen Entführer im Auto hat, sondern die Bodyguards des Stammesführers. Ein guter Freund von mir hat im Irak am Strassenrand angehalten und wollte sich erleichtern. Eine Mine sprengte ihn in die Luft. In früheren Kampfgebieten darf man die Strasse nicht verlassen. Das müssen Sie verinnerlicht haben.
Sind auch erfahrene Kriegsreporter wie Sie gefährdet, weil sie denken, dass ihnen nichts mehr passieren kann? Ja, man darf auch im Alter niemals müde werden und muss sich immer wieder erkundigen, wie die Sicherheitslage ist. In bestimmten Provinzen Afghanistans ändert sich diese von Tag zu Tag.
Sie sind 60 Jahre alt, haben viele Kriege gesehen. Sind Sie nicht langsam müde? Ich bin langsamer und müder als früher. Aber die Arbeit ist hochinteressant. Und die Idee gefällt mir nicht, aus der Zentrale zu berichten und mich auf meine früheren Erfahrungen zu stützen. Aber ich habe keine Lust, als Greis hier durch die Berge zu hüpfen.
Machen Sie auch wegen des Kicks weiter, die Gefahr im Nacken zu spüren? Nein, darum geht es nicht. Ich liebe die Gefahr wirklich nicht. Afghanistan ist ein Prüfstein für die westliche Politik. Ich möchte sehen, was sich hier verändert.
Gibt es Kollegen von Ihnen, die wegen dieses Kicks unterwegs sind? Das sind weniger, als man sich vorstellen könnte. Journalisten in Krisengebieten würde ich mit Tunnelbauern oder Fernfahrern vergleichen. Man trägt ein höheres Risiko als ein Postbeamter. Aber das Risiko ist beherrschbar.
In der Schweiz sind Sie ein Star. Liegt das an Ihrem versteinerten Gesicht trotz der Gefahr, die Sie umgibt? Dieser Gesichtsausdruck hat nichts mit meinem Beruf zu tun. Ich lache auch auf Kinderfotos nicht. In der Schweiz habe ich ein Stammpublikum, das mich seit Jahren kennt und deshalb Vertrauen zu mir hat.
Auf Ihrer Internetseite inszenieren Sie sich ein Stück weit als Star – unangreifbar inmitten des Chaos oder mit kugelsicherer Weste in der afghanischen Provinz. Das ist keine Inszenierung, sondern meine Arbeit. Wenn ich mit Nato- oder Isaf-Truppen unterwegs bin, muss ich eine kugelsichere Weste tragen. Aber Sie werden kein Bild finden, auf dem ich mit einer solchen Weste vor die Kamera trete, während der Kameramann im Hemd dasteht.
Setzen andere Journalisten Kugelschutzweste und Helm ein, um beim Fernsehzuschauer den Eindruck zu erwecken, es sei gefährlicher, als es in Wirklichkeit ist? Das gibt es nur zu oft. Die Korrespondenten ziehen die Ausrüstung für die Liveschaltung an, obwohl die Gefahr nicht so gross ist, denn dann würden auch Kameraleute und Techniker Schusswesten tragen. Das finde ich schlimm, weil solch ein Verhalten das Publikum in die Irre führt. So etwas hat und wird es bei mir nicht geben.
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