Und dann wurde Bülach zur europäischen Hauptstadt Brasiliens
Sie reisten von weit her ins Zürcher Unterland, die Brasilianer: In der Stadthalle spielte ihr Superstar, Wesley Safadão.

Wäre es nicht so kalt und stünde auf dem gegenüberliegenden Gebäude nicht in grossen Lettern «Freibad», man könnte sich in Brasilien wähnen. In der langen Schlange, die fast rund um die Stadthalle Bülach reicht, wird ausschliesslich Portugiesisch gesprochen. Junge Menschen stehen sich hier an diesem späten Samstagabend im Februar die Beine in den Bauch. Manche tragen Baseballmützen mit den Initialen «WS».
Sie stehen für Wesley Safadão. Der Mann (28) aus Fortaleza im Nordosten des Landes, ist unter seinen Landsleuten ein Superstar. Dank ihm wird das kleine, unscheinbare Bülach für ein paar Stunden zur Metropole des Latin Pop.
Safadãos Hit «Camarote», der ihn Ende 2015 zu einem Star in ganz Brasilien machte, hat zwar nicht die Strahlkraft von «Ai se eu te pego!», jenem Song auf Portugiesisch, mit dem ein gewisser Michel Teló im Sommer 2011 kurzfristig die Welt eroberte und unter anderem das X-tra in Zürich ausverkaufte. Aber für die Leute, die sich hier in der Kälte des Zürcher Unterlandes zusammengefunden haben, ist Teló ein Niemand und Wesley Safadão der Grösste. Ein Macho, ein cooler Hecht, ein Musiker, der mit seiner Musik Stadt und Land vereint.
Bülach wird zu «Zurikiii»
Immer mal wieder zückt jemand sein Smartphone, um die Wartezeit mit etwas Musik zu verkürzen: Man hört Samba, Forró, Baile Funk. Drinnen angekommen, sichern sich viele erst mal eine Flasche Hochprozentiges samt Mischgetränken, vertreiben sich die Zeit mit Selfies. Ebenso, wie es ihr Idol machen würde: «Jetzt hast du den Durchblick und schaust mir zu, wie ich Bier und eisgekühlten Ciroc (Wodka-Marke) trinke. Ich geniesse die Party in vollen Zügen. Und du, du machst nichts mit niemandem, niemand ist an dir interessiert», singt er im Refrain seines Hits «Camarote». Es soll wohl heissen: Ätschbätsch – du hättest dich nie von mir trennen sollen. Jetzt bist du der Loser.
In seinen Songs ist Safadão der Gewinner, der Schlawiner, das Schlitzohr. «Safado» heisst «schamlos». Er spielt die Rolle des Machos. Manchmal verbittert, immer überlegen. Auf der Bühne wirkt er allerdings nahbar und sehr entspannt. Er gehört zu jener Sorte Künstler, die es überhaupt nicht nötig hat, irgendwelche Faxen zu machen. Als er kurz nach Mitternacht auf der Bühne erscheint, trägt er einen flachen Hut und ein schwarz bedrucktes T-Shirt, schreit zu Begrüssung laut «Zurikiii!» und scheint sich hier kein Spürchen anders zu verhalten als irgendwo in Brasilien.
Und immer wieder Selfies
Der Sound hat Power. Die Kraft stammt vom Rhythmus, vom Schlagzeug, das immer wieder die Schlagfolge aufbricht. Von den kräftigen Bläsern, vom Gesang. Die Melodie wird vom Akkordeon und Synthesizer geführt. Es sind keine poetischen Meisterleistungen, die sich in diesen Songs manifestieren. Es ist Unterhaltungsmusik, Tanzmusik. Allerdings fusst sie auf einer soliden musikalischen Tradition, stellt eine Abwandlung des klassischen Forró dar. Unsicherheiten kennt ein Safadão nicht. Zeit für spontane Einlagen hat er immer: Mehrmals holt er sich eine Dame zum Tanzen auf die Bühne, immer mal wieder schnappt er sich eines der unzähligen ihm entgegengereckten Handys und schiesst ein Selfie von sich und den Fans. In der Haut von Wesley Safadão zu stecken, scheint das Einfachste auf der Welt zu sein.
Es ist seine erste Tournee durch Europa. Und sie endet an diesem Abend. Trotzdem fühlt es sich wie ein Heimspiel an. Das Publikum, das hier in Bülach aus weiten Teilen Europas zusammengekommen ist, repräsentiert alle Regionen Brasiliens – den Nordosten, die Metropolen São Paulo und Rio, Bahia, Minas Gerais, Pará, Mato Grosso, Rio Grande do Sul, den Amazonas und so weiter. Wesley ist ein Cearense, ein Nordestino, kommt aus der Millionenstadt Fortaleza im Bundesstaat Ceará. Aber an diesem Abend repräsentiert er sie alle. Ausserhalb der brasilianischen Community hat man von diesem Anlass im Vorfeld nichts mitbekommen. Das, was sich hier in «Büüli» abspielt, ist eine reine innerbrasilianische Angelegenheit.
Aus ganz Europa angereist
Ob das alles 140 Franken plus Parkplatz, Verpflegung und Wohlfühlgetränke wert ist, kann sowieso nur beurteilen, wer «Ordem e Progresso» im Blut hat. In jedem Fall ist es kein günstiges Unterfangen, hier an diesem Abend umgeben von Tausenden anderer Brasilianer aus «Lausanni, Berni, Milano, Firenze oder Baseuu» ein paar schöne Heimatgefühl-Momente zu erleben. Es ist inzwischen kurz nach 2 Uhr nachts. Gerade wird ein junger Mann von den Securities im Schwitzkasten nach draussen spediert. Er zappelt. Sein Gesicht sieht aus, also bräuchte er dringend Luft. Sehr dringend Luft.
Draussen vor der Halle warten eine Ambulanz und ein Streifenwagen der Polizei. Auf dem Parkplatz stehen die grossen Reisecars, welche die mehreren Tausend Besucher nach Konzertende wieder in fast alle Teile Europas zurückkarren werden. Von hier aus hört man sie immer noch skandieren: «Vai Safadão, vai Safadão!» Gut möglich, dass er vor ihnen zu Hause sein wird.
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