
Die Weltrangliste lügt nicht, lautet ein oft gehörtes Argument. Am Ende einer der turbulentesten Spielzeiten im Männertennis ist die Frage dennoch legitim, ob Rafael Nadal tatsächlich die richtige Nummer 1 ist. Im Vergleich zu Roger Federer fallen die meisten Parameter für ihn negativ aus, vom Direktvergleich (0:4) bis zur Anzahl der Turniersiege (6:7). Er hat ganz einfach mehr gespielt.
Es spricht für Federers Souveränität, dass er der Erste ist, der aus der Situation keine Polemik entstehen lassen will. Er erstickte die Diskussion in London schon vor dem Turnier mit der Aussage, Nadal habe die beste Saison aller gezeigt und verdiene diese Position. «Auch, weil er mehr gespielt hat. Er hatte mehr Benzin im Tank.»
Zu Federers Grossmut trägt zweifellos die Tatsache bei, dass auch er seine eigenen Erwartungen massiv übertroffen hat und die Nummer 1 dieses Jahr gar nie ein Ziel war. Und wohl auch, dass er spürt, dass er in der Gunst des Publikums und der anderen Spieler ohnehin zuoberst steht, wie es die ATP-Awards bestätigt haben. Er möchte sich die Freude über sein Traumjahr als Positivdenker nicht durch einen Nebenschauplatz trüben lassen.
Video – Federer ist an den ATP Finals nicht zu stoppen
Nadals Saisonbilanz liest sich jedenfalls nicht wie die eines souveränen Überfliegers, nachdem er – wenig überraschend – das Saisonfinale in London nach der Auftaktniederlage gegen David Goffin wegen Schmerzen im rechten Knie abgebrochen hat. Er beendet sein Pensum mit sechs Turniersiegen, elf Niederlagen und 10'645 ATP-Punkten. Glanzvoll ist das nicht. Seit Federer 2004 erstmals eine Saison an der Spitze abschloss, sammelte nur ein Jahresbester nach bereinigter Wertung noch einige Punkte weniger als nun der Spanier (Federer 2009). Das Total des Mallorquiners hätte in vielen Saisons nicht zur Führung gereicht. Federer und Djokovic holten in ihren punktbesten Jahren (2006/15) beide über 16'500 Punkte.
Federers Chance in London
Sollte der achtfache Wimbledonsieger seiner Favoritenrolle in London gerecht werden und das Saisonfinale am Sonntag zum 7. Mal gewinnen, würde sich der Vergleich mit Nadal (siehe Box) noch mehr auf seine Seite neigen, der Rückstand könnte bis auf 145 Punkte sinken. Das entspricht auf diesem Niveau einem Wimpernschlag. Zufallsleader gab es in der Weltrangliste aber immer wieder; Ivan Lendl und der Chilene Marcelo Rios erklommen 1983 und 1998 die Spitze, ohne einen Majortitel gewonnen zu haben.
Die Weltrangliste war schon immer ein mathematisches Konstrukt, deren Berechnung und Punkteskalen von den Funktionären aus politischen Gründen schon geändert wurde, um Spieler zu häufigeren Einsätzen zu bewegen. Bis zu den Achtzigerjahren wurde jeweils ein Durchschnittswert aller Ergebnisse zur Klassierung herbeigezogen, was die Qualität der Resultate stärker gewichtete als die Quantität. Das ist heute in der Tendenz umgekehrt.
Bildstrecke: 2017 – ein Federer-Jahr
Sonst läge Federer vorne. Er hat dieses Jahr über 90 Prozent der Partien gewonnen, deutlich mehr als Nadal (85,9 Prozent). Zudem waren zwei seiner vier Niederlagen für ihn aussergewöhnliche Betriebsunfälle, in Dubai gegen Donskoi und in Stuttgart gegen Haas, jeweils nach vergebenen Matchbällen. In Montreal (Zverev) und New York (Del Potro) war er dann von Rückenproblemen behindert, während bei Nadal die Knieprobleme erst vor einem Monat einsetzten. Ein Patt ergab sich bei den Majors: Federer holte Pokale in Melbourne und Wimbledon, Nadal in Paris und New York.
Dem Linkshänder gelang zweifellos eine grossartige Saison. Doch er war auch ein Günstling. Er profitierte davon, dass sich die Verletzungen von Topspielern in nie gesehenem Ausmass häuften (Djokovic, Murray, Wawrinka, Nishikori usw.). Das führte dazu, dass er als erster Spieler seit 1980 am US Open einen Grand-Slam-Titel holen konnte, ohne auch nur einen Top-25-Gegner bezwingen zu müssen. Und natürlich profitierte er auch entscheidend davon, dass Federer mit 36 Jahren mehr denn je auf seinen Körper achtet, die Sandsaison ausliess und das Pech hatte, dass sich in Montreal der Rücken meldete. Das sei das Einzige, was er bedaure, sagt Federer.
Trügerische Geschichte
Dafür kann Nadal nichts. Er hat getan, was er tun musste. Wenn er das Tennisjahr 2017 an sich vorbeiziehen lässt, dürfte aber insgeheim auch bei ihm der Gedanke aufkommen, dass es da einen anderen gab, der diese Position auch verdient hätte. Doch wie es im Tennis keine Unentschieden gibt, sind im Ranking auch keine Co-Leader vorgesehen. Ironisch aber ist es schon, dass im Jahr, in dem Federer in Melbourne und Wimbledon der älteste Grand-Slam-Sieger der Profiära nach Roy Emerson wurde, ein anderer als Ältester ein Tennisjahr zuoberst beendet.
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Und die Weltrangliste lügt doch
Nadal beendet die Saison zuoberst, obwohl Federer qualitativ besser spielte.