«Unsere eigene Unfähigkeit starrt uns ins Gesicht»
Der Tod einer Studentin nach einer brutalen Vergewaltigung treibt die Inder auf die Strassen. Ihr Schicksal steht für die übliche Gewalt gegen Frauen im Land. Einige sehen es aber als Wendepunkt.
Ihren wahren Namen werden die meisten Menschen wohl nie erfahren, doch ihr Schicksal geht den Indern so nahe, dass sie die junge Frau bereits als «Tochter Indiens» in ihre Herzen geschlossen haben. Der Tod der brutal vergewaltigten Inderin treibt die Menschen auf die Strasse und offenbart das Problem einer tief in der Gesellschaft verwurzelten Frauenfeindlichkeit.
Die Menschen sind gepackt von Wut, aber sie schämen sich auch. Vor allem aber hoffen viele, dass das Verbrechen an der 23-Jährigen eine Wende im Kampf gegen die Gewalt gegen Frauen bringt. «Unsere eigene Unfähigkeit starrt uns ins Gesicht», twitterte die bekannte Bollywood-Schauspielerin Shabana Azmi, nachdem sie vom Tod der Studentin heute Morgen in einer Klinik Singapur erfahren hatte. «Möge ihr Schicksal der Weckruf sein, den unser Land braucht. Wir müssen in uns gehen.»
«Wir behandeln sie schlecht»
Ähnliche Rufe werden auf den Strassen von Neu Delhi laut. «Die Inder müssen ihre Einstellung zu Frauen ändern», sagt der Autor Ashim Jain inmitten von Demonstranten. «Wir behandeln sie schlecht, missbrauchen und schikanieren sie. Der Schurke steckt in uns.»
Tatsächlich ist sexuelle und körperliche Gewalt gegen Frauen in Indien an der Tagesordnung. Die Hauptstadt Neu Delhi gilt mittlerweile als «Hauptstadt der Vergewaltigung», alle 18 Stunden wird dort nach Schätzungen eine Frau vergewaltigt. Einer Studie der Organisation TrustLaw zufolge ist Indien das Land der 20 führenden Entwicklungs- und Schwellenländer, in dem die Rechte der Frauen am wenigsten geschützt und gewahrt werden.
Gleich sechs Männer fielen am 16. Dezember in einem Bus über die junge Studentin her, misshandelten sie schwer und verletzten sie unter anderem mit einer rostigen Eisenstange. Nach ihrem Verbrechen warfen sie die Frau und ihren Begleiter aus dem fahrenden Bus und liessen sie blutend zurück. Am Samstag starb die «Tochter Indiens» an Organversagen. Die mutmasslichen Täter wurden festgenommen. Ihnen droht eine Anklage wegen Mordes – und damit die Todesstrafe.
Mädchen von Polizei verhöhnt
Die Gruppenvergewaltigung und das Trauma, das die 23-Jährige erlitt, seien «wahrlich nicht neu», sagt die Hausfrau Anjali Raval, die es heute auf die Strasse zog. «Doch ihr Fall war wie ein Dampfkochtopf, der explodiert.» Trotz hoher Sicherheitsvorkehrungen gingen die Menschen aus Solidarität auf die Strassen, klebten sich aus Protest gegen die Unterdrückung der Frauen den Mund zu, forderten die Todesstrafe für Vergewaltiger oder legten sich einfach schweigend auf die Strassen der vielerorts abgeriegelten Hauptstadt. «Es ist höchste Zeit, aufzuwachen und für Frauenrechte zu kämpfen», sagt Raval.
Dass das Schicksal der jungen Inderin tragischer Alltag zu sein scheint, zeigen auch andere Beispiele. Am Donnerstag wurde etwa die Geschichte einer 17-Jährigen aus dem Bundesstaat Punjab bekannt. Sie wurde von zwei Männern vergewaltigt und fasste Mut, zur Polizei zu gehen, wie ihre Schwester später erzählte. Doch anstatt ihr zu helfen, boten die Beamten ihr Geld an und schlugen ihr sogar vor, einen der Peiniger zu heiraten, um die Sache zu vergessen. Da sah das Mädchen keinen Ausweg mehr und nahm sich das Leben.
Kaum Konsequenzen für Männer
«Was ist falsch mit uns, mit unserer Gesellschaft?», fragt die Frauenrechtlerin Kavita Krishnan bei den Protesten in Neu Delhi. Nirgendwo im Land seien Frauen so viel wert wie Männer.
Das zeige sich auch bei der Strafverfolgung: Wenn sich eine Frau einmal überwinde, nach einer Vergewaltigung zur Polizei zu gehen, sei diese oft nicht gewillt, ihre Anzeige aufzunehmen. Dann verschleppten die Gerichte die Fälle oft jahrelang, 100'000 Akten sollen verstauben. Und nur in einem von vier Fällen kommt es zu einer Verurteilung.
Der Tod als Wendepunkt?
Am Samstag hatten Menschen in ganz Indien der jungen Frau gedacht. In mehreren Städten zündeten sie Kerzen für das Opfer an. Tausende demonstrierten erneut gegen sexuelle Gewalt und für mehr Frauenrechte.
Nachdem die Politik erst nicht auf die Vergewaltigung und die folgenden Proteste reagiert hatte, sind nun alle führenden Politiker vor Mikrofone getreten und haben Massnahmen versprochen, damit sich ein solcher Fall nicht wiederhole. Sonia Gandhi, Vorsitzende der regierenden Kongresspartei, versprach, der Tod der 23-Jährigen werde nicht umsonst gewesen sein. Im Internet wird die junge Frau als Symbol für all jene Verbrechen gewürdigt, die den Zeitungen nur eine Fussnote wert seien.
Premierminister Manmohan Singh rief dazu auf, die durch den Fall geweckten Emotionen für einen gesellschaftlichen Wandel zu nutzen. «Sie mag ihren Kampf ums Überleben verloren haben, aber es liegt an uns sicherzustellen, dass ihr Tod nicht umsonst war», erklärte er.
Präsident Pranab Mukherjee sagte, die junge Frau sei stark und tapfer gewesen. «Sie ist eine wahre Heldin und symbolisiert die indische Jugend und Frauen auf das Beste.»
«Ja, die Frau ist gestorben, aber ihre Geschichte wird immer in Erinnerung bleiben», sagt der Hochschulprofessor Aaakar Kamath, der sich ebenfalls an den Demonstrationen beteiligte. «Denn viele Inder sind nun endlich bereit, gegen die Frauenfeindlichkeit zu kämpfen.» Zwar sei das Kapitel noch längst nicht beendet. Aber der Tod der jungen Frau sei ein «Wendepunkt».
Leiche aus Singapur ausgeflogen
Die Leiche der von mehreren Männern brutal vergewaltigten Inderin ist inzwischen in Neu Delhi in einem Krematorium verbrannt worden. Zuvor seien die letzten religiösen Riten an ihrem Wohnort in Neu Delhi vollzogen worden, berichtete die Onlineausgabe der «Times of India».
Der Sarg war mit einer Chartermaschine aus Singapur gebracht worden, wo die 23-Jährige am Samstag in einer Klinik an ihren schweren Verletzungen gestorben war. An Bord der Air-India-Maschine befanden sich auch die Eltern, die in den letzten Stunden bei der Studentin gewesen waren, sowie zwei Brüder.
AFP/sda/rbi/mw
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch