«Unsichtbare» Kinder als Einbruchsprofis
Krimi der Woche: Ohne billige Sentimentalität erzählt die Argentinierin Lucía Puenzo in «Die man nicht sieht» von Kindern, die als Einbrecher benutzt werden.

Der erste Satz
«Bevor sie in Once auftauchten, hatte es sich schon herumgesprochen: Sie waren dabei, Kinder anzuwerben, die den Sommer über in Uruguay arbeiten sollten.»
Das Buch
Enana und Ismael sind spezialisiert auf Einbrüche, die sie für einen Auftraggeber ausführen. Sie sind 15, und seit sie etwas zu gross geworden sind, um durch kleine Öffnungen in Häuser einzusteigen, ist Enanas 6-jähriger Bruder Ajo zum Team gestossen. Er kann wie ein Äffchen Fassaden hochklettern, kommt fast überall rein und kann dann seine Schwester und ihren Freund durch die Tür hereinlassen.
Dieses Einbrechertrio aus Once, einem Vorortsquartier von Buenos Aires, begleitet die argentinische Autorin und Filmemacherin Lucía Puenzo in ihrem neuen Buch «Die man nicht sieht» (Original: «Los invisibles», also «Die Unsichtbaren»). Das ist kein Krimi im üblichen Sinn, aber ein durchaus spannender Roman, der mit seinem nüchtern beobachtenden Blick über weite Strecken fast dokumentarisch wirkt.
Die 42-jährige Lucía Puenzo – sie ist übrigens die Tochter des Filmemachers Luis Puenzo, der 1985 für «La historia oficial» mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde – beschäftigt sich in ihren literarischen und filmischen Werken immer wieder mit Themen rund um Kindheit und Jugend. Um Strassenkinder, wie es sie in Buenos Aires offenbar in grosser Zahl gibt, geht es hier. Ihre jungen Helden sind schlau und clever, gleichzeitig aber auch auf kindliche Art naiv. Bei ihren Raubzügen geht es nicht darum, Häuser oder Wohnungen auszuräumen: Das Trio lässt nur wenige ausgesuchte Gegenstände mitgehen, sodass die Einbrüche oft erst nach einiger Zeit überhaupt bemerkt werden.
Geführt oder vielmehr benutzt werden die drei jungen Profis von Guida, dem Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsdienstes, dessen Masche verbreitet ist: «Sobald die Eigentümer, deren Häuser sie bewachen sollten, verreisten oder in ihr Wochenenddomizil fuhren, liessen sie die Kinder kommen.» Nun verkauft Guida sein Top-Trio nach Uruguay. Dort wird es für Einbrüche in Luxusvillen in einer Gated Community eingesetzt. Dass das für die drei jungen Argentinier ziemlich schiefläuft, ist von ihren Auftraggebern gewollt, denn diese Raubzüge sind für sie nur Mittel für andere Zwecke.
Lucía Puenzo schildert mit trockenem Humor, wie hier zwei Welten aufeinanderprallen, wenn die Strassenkinder aus Once auf reiche Schickimickifamilien treffen. Eine besondere Stärke ihrer Erzählkunst liegt darin, dass sie zwar durchaus berührt, dabei aber auf wohlfeile Sentimentalitäten, die sich bei einem solchen Stoff anbieten, konsequent verzichtet. Die fast unparteiische und gnadenlose Art, in der Puenzo erzählt, was den kindlichen Räubern widerfährt, macht dieses Werk zu einem veritablen Noir-Roman.
Die Wertung
Die Autorin
Lucía Puenzo, geboren 1976 in Buenos Aires, studierte Literatur an der Universität Buenos Aires und besuchte dann die Filmschule des Instituto Nacional de Cine y Artes Audiovisuales. Ihr Vater ist der Filmemacher Luis Puenzo, der 1985 für «La historia oficial» mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde. Lucía Puenzo begann ihre Laufbahn im Film 2001 als Drehbuchautorin, 2004 veröffentlichte sie ihren ersten Roman «El niño pez» (Deutsch: «Das Fischkind», 2009). Ihr Debüt als Regisseurin gab sie 2007 mit dem Film «XXY», der beim Filmfestival in Cannes mit dem Grand Prix de la Semaine de la Critique und in Madrid mit dem Goya für den besten nicht spanischen Film ausgezeichnet wurde. Ihre Verfilmung ihres eigenen Romans «Wakolda» wurde 2012 in Cannes uraufgeführt und gewann 20 internationale Filmpreise. Ihre Serie «Ingobernable» ist seit Dezember 2018 auf Netflix zu sehen. Sie hat ein halbes Dutzend Romane veröffentlicht, die in 15 Sprachen übersetzt wurden. Ein Grossteil ihres Werkes befasst sich mit Themen in Zusammenhang mit Kindheit und Jugend.

Lucía Puenzo: «Die man nicht sieht» (Original: «Los invisibles», TusQuets Editores, Buenos Aires 2018). Aus dem Spanischen von Anja Lutter. Wagenbach, Berlin 2018. 204 S., ca. 27 Fr.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch