Unter dem Verdacht des Landesverrats
Das mächtige Kloster Einsiedeln war den französischen Revolutionären ein Dorn im Auge. Als die Franzosen anrückten, bat der Abt ausgerechnet einen Habsburger um Hilfe.

Am 1. Mai 1798 kurz vor Mittag kam es in der Klosterkirche zu Einsiedeln, direkt vor der Gnadenkapelle, zu einem Handgemenge zwischen den Mönchen. An vorderster Front der Subprior Fintan Steinegger auf der einen, der Kapellbruder auf der anderen Seite. Es ging darum, ob man die Muttergottesstatue, die Schwarze Madonna, in Sicherheit bringen soll oder sie jetzt erst recht hier vor Ort vonnöten sei. Denn die Franzosen rückten über den Etzel an. Und dass diese mit der Kirche im Allgemeinen und mit dem mächtigen Kloster Einsiedeln erst recht nichts Gutes im Sinn hatten, das war allgemein bekannt.
Diese Szene steht sinnbildlich für die Zeit, die der Einsiedler Pater und Historiker Thomas Fässler in einem über 600-seitigen Buch aufgearbeitet hat. Es wurde letztes Jahr von Professor André Holenstein an der Universität Bern als Dissertation anerkannt und rückt die Geschichte der Innerschweiz in manchen Bereichen in ein neues Licht. Das Buch liest sich auch für interessierte Laien gut.
Aufgeklärte Mönche
Die Szene vor dem Gnadenbild zeigt exemplarisch auf, wie sich das noch im Mittelalter verhaftete Weltbild im Zuge der Aufklärung zu verändern begann und einem neuen, rationaleren Menschenbild Platz machte. Auch im Kloster: Hier der Subprior, der die Hilfe der Madonna direkt an die Anwesenheit ihres Standbildes knüpft, da der Kapellbruder, der das Bild lediglich als Abbild der Madonna verstand.
In der bisherigen Geschichtsschreibung galt die Innerschweiz weitgehend als «aufklärungsfrei». Wie Pater Thomas erklärt, hat dies in erster Linie mit der Historiografie des 19. Jahrhunderts zu tun. «Die Menschen, auch die Historiker, brachten die Aufklärung direkt mit dem Einfall der Franzosen und dem daraus entstandenen Chaos in Verbindung. Aufklärung hiess für sie Revolution. Damit wollte man nichts zu tun haben.»
Fässler zeigt nun aber in seiner Doktorarbeit, dass es in der Innerschweiz durchaus eine klare Strömung aufklärerischen Gedankengutes gab, nicht zuletzt angeführt von Patres des Klosters Einsiedeln. Die Mönchsgemeinschaft fasste damals etwa hundert Mitglieder, gut ein Drittel waren Brüder, die hauptsächlich in handwerklichen Fertigkeiten ausgebildet waren. Unter den Patres war, so schätzt Thomas Fässler, wohl ein gutes Dutzend den Ideen der Aufklärung gegenüber aufgeschlossen.
Diese katholische Aufklärung ging selbstredend nicht so weit, die Existenz Gottes infrage zu stellen oder die göttliche Vorsehung kleinzureden. Aber sie vertrat insbesondere im Bildungswesen einen fortschrittlichen Standpunkt: Bildung und Erziehung sollen dem Menschen direkt nützen. Ganz konkret hiess das etwa: Sprache und Rechnen statt Latein und Griechisch. Es waren Einsiedler-Patres, welche mit entsprechenden Abhandlungen und Erziehungsschriften dieses Gedankengut in der Innerschweiz vorantrieben und sogar neue Lehrmittel verfassten, damit das nicht einfach Theorie blieb. Dies zeigte Auswirkungen in der ganzen Region, hatten doch die Dorfpfarrer in gewisser Weise die Aufsicht über die Volksschule inne.
Der vernetzte Abt
«Dass mitten in der Innerschweiz eine Reihe von Mönchen aufklärerische Ideen begeistert aufgriffen und umsetzten, ist tatsächlich erstaunlich», sagt Thomas Fässler. Was ihn aber geradezu verblüffte, war die gezielte Vernetzungspolitik, welche das damals reiche Kloster betrieb. Im Kleinen wie im Grossen: So vergab es an Dorfbewohner, aber auch an Schwyzer Herren oder ausserschwyzerische Politiker Darlehen, oft zinslose, um diese für sich einzunehmen. «Man kaufte sich ganz gezielt durch finanzielles Kapital soziales Kapital», sagt Fässler. Damit nicht genug: Das Kloster bewegte sich auch auf internationalem Parkett, denn dort war der Abt von Einsiedeln als Fürst des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation absolut zu Hause.
Dies führte schliesslich zu einem waschechten Skandal, den zeitgenössische Kritiker gar als «Landesverrat» betitelten. Die Affäre wurde danach allerdings tunlichst unter den Teppich gekehrt, sodass sie bisher kaum bekannt war. Dass Thomas Fässler dieses Ereignis ans Licht bringt, wäscht ihn vollends vom Verdacht frei, dass er als Einsiedler-Mönch «Gefälligkeitsgeschichte» schreibt. Bei der sogenannten Verteidigung seiner Dissertation fragte der vorsitzende Professor zum Schluss denn auch: «Getrauen Sie sich überhaupt wieder ins Kloster zurück?»
Folgendes geschah: 1792 und 1796 bat Kaiser Franz II. den Abt von Einsiedeln um einen Kredit zur Finanzierung des Kriegs gegen Frankreich. Beide Male wurde die Anfrage positiv beantwortet. So wurde also ein Kaiser aus dem Hause Habsburg-Lothringen Schuldner des Klosters Einsiedeln.
«Dass mitten in der Innerschweiz Mönche aufklärerische Ideen begeistert aufgriffen, ist erstaunlich.»
Überwiesen wurde die für damalige Verhältnisse beachtliche Summe von je 100'000 Gulden als Darlehen. Man war allerdings bestrebt, dass diese Transaktion geheim blieb.
Rein altruistisch war das allerdings nicht, denn der Abt zweifelte immer mehr daran, dass der Stand Schwyz in der Lage wäre, das Kloster vor den französischen Truppen zu schützen. Wenn er es überhaupt gewollt hätte. Fässler zeigt nämlich auf, wie ambivalent die Schwyzer in der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution waren: «Um die eigene Haut zu retten, hätten sie das Kloster ohne Bedenken den Franzosen ausgeliefert.»
Als Spion verhaftet
Als selbst das mächtige Bern unter dem Ansturm der französischen Truppen fiel, sandte der Abt von Einsiedeln am 8. März einen verzweifelten Hilferuf an den Kaiser. Der damit beauftragte Bote geriet damit in Bubikon allerdings in einen Händel, den Rapperswil und die Stadt Zürich gerade austrugen, und wurde der Spionage verdächtigt. Als der arme Kerl sich unbeobachtet wähnte, zerriss er den Brief des Abtes, wurde aber dabei erwischt. Der Brief wurde in Küsnacht wieder zusammengepuzzelt und die Zürcher Abgeordneten lasen folgende Zeilen des Abtes: «In unserer äussersten Gefahr und Bedrängnis, besonders da die Franken über unser Heiligthum schon lange verboset scheinen, nemmen Wir die etwan noch mögliche Zuflucht zu Ew. Exc., unserem hoch und besten freund. (. . .) Die Katholische und noch fromme Schweiz wünschte, aber eben auch villeicht zu spät, unter die Kaiserliche Beherrschung tretten zu mögen.» (Staatsarchiv Schwyz, Akten 1, 588.004, Nr. 5)
Es war tatsächlich zu spät: Am 2. und 3. Mai marschierten die französischen Truppen in das von den meisten Mönchen fluchtartig verlassene Einsiedeln ein. Einer der ersten Befehle, welche der Anführer der Franzosen, General von Schauenburg nach Einnahme des Klosters erteilte, lautete die «vierge prétendue miraculeuse» herbeizuschaffen. Die Gnadenkapelle wurde vollständig zerstört, das Kloster bis auf den letzten Stuhl geplündert. Die in ganz Europa bekannte Schwarze Madonna sollte in Paris von Napoleon als Kriegsbeute im Triumphzug ins Pantheon gebracht werden. So geschah es auch.
Der zu Beginn erwähnte Kapellbruder hatte allerdings am 1. Mai, als der Subprior beim Mittagessen war, das Standbild der Madonna mit einer Kopie ausgetauscht und das Original in Sicherheit gebracht. Als Schauenburg später zugetragen wurde, dass es sich bei seiner Kriegsbeute nur um eine Kopie der «angeblich wundertätigen Madonna» handelte, erwiderte er kurz und bündig: «Ça m'est égal.»
Thomas Fässler: Aufbruch und Widerstand. Das Kloster Einsiedeln im Spannungsfeld von Barock, Aufklärung und Revolution. Thesis-Verlag 2019. 643 S., ca. 48 Franken.
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