Unwirkliche Szenen in Westminster
Jeremy Corbyn ist es nicht gelungen, Theresa May zu stürzen. Beim Misstrauensantrag gegen Mays Regierung im Unterhaus hatte der Oppositionsführer gestern Nacht keine Chance.

Konservative Abgeordnete und nordirische Unionisten hatten vorab schon erklärt, dass sie der Premierministerin das Vertrauen aussprechen würden. Willig marschierten sie bei der gestrigen Abstimmung hinter May her. Mit 325 zu 306 Stimmen wahrte die Tory-Regierung ihre knappe Unterhaus-Führung. Niemand im Regierungslager hatte ein Interesse daran, die Macht aus der Hand zu geben – Brexit hin oder her.
Denn auch Tory-Politiker, die tags zuvor Theresa Mays Brexit-Deal eine Niederlage von historischen Dimensionen bereitet hatten und die May im Grunde hassen, mochten nicht riskieren, einen linkssozialistischen Premier in No 10 Downing Street zu sehen. Auch für die zehn Unterhaus-Abgeordneten der Unionisten-Partei DUP war es besser, Mays Minderheitsregierung weiter am Gängelband führen zu können.
Als sei nichts geschehen
Ein Hauch des Unwirklichen haftete Westminster an gestern. Nicht nur, weil die mit ihrer Brexit-Politik katastrophal gescheiterte Regierungschefin für alle Welt sichtbar weiter fest im Sattel sass.
Fast gespenstisch hatte schon vorher angemutet, auf welche Weise sich May und Corbyn zur allwöchentlichen Fragestunde im Unterhaus gegenüberstanden. Inmitten der schwersten Krise der britischen Nachkriegsgeschichte absolvierten die beiden Protagonisten der Inselpolitik ihr Mittwochsritual – so, als ob nichts geschehen sei.
May pochte an ihrem Redepult auf die Verdienste ihrer Regierung. Sie warf Corbyn vor, mit seinem Drängen an die Macht alles von ihr Erreichte zu gefährden. Corbyn beschuldigte May, vier Millionen mehr Menschen zu einem Leben in Armut verurteilt zu haben. May erwiderte, in Wirklichkeit gebe es dank der Konservativen eine Million Arme weniger im Land.
Auch um die aktuelle Lage der Schulen im Vereinigten Königreich kabbelten sich die beiden Parteiführer. Ungläubig verfolgten die Abgeordneten den Streit.
Video – Theresa May übersteht Misstrauensvotum im Parlament
Immerhin war ja mit dem Scheitern des May-Deals am Vortag das gesamte Konstrukt der Regierungspolitik zum Brexit zusammengebrochen. Mit einem Mal fanden sich die Briten auf dem Weg zum Exit ganz ohne Netz und doppelten Boden. May aber schien das wenig zu rühren. Zwar erklärte sie sich zu Gesprächen mit «führenden Parlamentariern» über einen neuen Plan bereit. Dann stellte sich jedoch heraus, dass sie keineswegs an ernsthafte Verhandlungen auf breiter Front dachte. Ein Treffen mit Corbyn etwa war gar nicht geplant von der Regierungszentrale.
Das stimmte Brexit-Hardliner wiederum froh. Der frühere Brexit-Staatssekretär Steve Baker etwa sprach davon, dass man nach dem Scheitern des May-Deals nun Gelegenheit habe, «einen besseren Deal zu erzielen».
May müsse die EU jetzt zwingen, den Briten noch vor dem 30. März einen Freihandelsvertrag auszustellen, sagte Baker. Andernfalls habe sie dafür zu sorgen, dass Grossbritannien ohne weitere Vereinbarung aus der EU ausscheide – und der EU keinen Penny zahle.
Ex-Aussenminister Boris Johnson erklärte, man müsse letztlich bloss den «Backstop», die leidige Irland-Garantie, aus Mays Austrittsvertrag «operativ entfernen». Ausserdem sei «mehr Enthusiasmus» angebracht, erklärte er, bei den Vorbereitungen zum Austritt ohne Deal. Während die Brexiteers die geschwächte Regierungschefin so vollends zu sich herüberzuziehen suchten, drängten proeuropäische Minister wie Finanzminister Philip Hammond verzweifelt auf eine Neuorientierung Mays: auf eine rasche Kompromisslösung mit der Opposition.
Flut von Klagen
Hammond sah sich in Telefongesprächen mit Wirtschaftsbossen und allerlei Verbänden einer Flut wütender Klagen gegenüber. Wenn die Ungewissheit noch länger anhalte, füge die Regierung dem Land «unerhörten Schaden» zu, bekam der Minister zu hören.
Der festgesetzte Austrittstermin sei schlicht nicht länger zu halten, suchten gestern Politiker aller Couleur der Regierung deutlich zu machen. Der Tory-Veteran Ken Clarke verlangte von May erneut, die EU unverzüglich um einen Aufschub des Austrittsdatums zu bitten. Wie Clarke wollten Parlamentarier auf allen Seiten des Hauses am Mittwoch von May wissen, ob sie denn überhaupt bei irgendetwas einzulenken gedenke auf der Suche nach Konsens.
May gab praktisch auf jede derartige Frage die gleiche Antwort: nämlich, dass sie ihre Gespräche in einem «konstruktiven Geiste» führen wolle – dass man aber den Ausgang des Brexit-Referendums von 2016 respektieren müsse. Daran führe kein Weg vorbei.
Und das, so May, verlange den Austritt aus der EU, die Eigenkontrolle über Grenzen, Geld und Gesetze, die Eröffnung neuer Handelschancen für Grossbritannien in der Welt und ein Ende der Freizügigkeit zwischen EU und Britannien. Es war, fanden Volksvertreter, als hätte es den Dienstag nie gegeben. Als wäre alles beim Alten. Als kämpfe Theresa May noch immer für ihren Deal.
Nur zwei Möglichkeiten bleiben
Damit strafe May alle Gelöbnisse zu neuer Verhandlungsbereitschaft Lügen, meinte bitter die Labour-Politikerin Yvette Cooper, eine prominente Pro-Europäerin. In höchster Eile flog auch Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon aus Edinburgh ein. Zusammen mit dem Ersten Minister von Wales, Mark Drakeford, verlangte Sturgeon, bei May und ihren Ministern vorzusprechen. Es sei allerhöchste Zeit, «zu den Realitäten zu erwachen und einen Kurswechsel vorzunehmen», sagte sie. Zweieinhalb Jahre lang habe sie May geraten, eine «weiche Landung» beim Brexit mit Verbleib in Binnenmarkt und Zollunion der EU vorzubereiten, erklärte die Schottin. Jetzt sehe sie nur noch die Möglichkeit, einen Aufschub des Austrittsdatums mit der EU auszuhandeln «und ein zweites EU-Referendum abzuhalten».
Unterdessen warnten die letzten May-Loyalisten unter den Tories ihre Hardline-Kollegen, mit ihrer Kompromisslosigkeit würden diese womöglich für das Gegenteil dessen sorgen, was sie wollten – nämlich für eine zweite Volksabstimmung zum Brexit und am Ende gar für Grossbritanniens Verbleib in der EU.
Vor dem Palast von Westminster schienen in der Tat gestern schon mehr Europa-Flaggen als am Vortag zu wehen. Immer mehr entwickelt sich das Brexit-Drama, nachdem Mays Deal gescheitert ist, zu einem Duell zwischen denen, die ohne Deal aus der EU ausscheiden wollen, und denen, die gar keinen Austritt wollen. Dazwischen bleibt, auch für May, nicht viel.
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