Unwürdig begraben
In Portugal liegt der älteste Sklavenfriedhof Europas. Aus Tausenden Knochen rekonstruieren Archäologen die düstere Geschichte des hiesigen Menschenhandels.

Das jüngste Kind war gerade mal drei Jahre alt, als es starb. Einige Erwachsene hatte man vor ihrem Tod sogar gefesselt. Ihre Leichen warf man später über die Stadtmauer von Lagos im Süden Portugals. Und so lagen dort unbemerkt die Überreste von 158 Menschen, bis im Jahr 2009 Bauarbeiter im Ortsteil Valle da Gafaria plötzlich auf die Knochen stiessen, in einer meterdicken Schicht städtischen Abfalls aus dem 15. bis 17. Jahrhundert.
In einer anschliessenden Grabung fanden Archäologen Tausende menschliche Knochen – eine Überraschung für die Wissenschaftler um Maria Teresa Ferreira von der Universität Coimbra. Denn die Bauarbeiter entdeckten den bislang ältesten Sklavenfriedhof der europäischen Geschichte. Ähnliche Grabstätten sind nur aus der Neuen Welt bekannt und auch deutlich später entstanden. «Wir hatten Dinge wie Tonscherben oder Tierknochen von Schweinen, Ziegen oder Hühnern erwartet, aber nicht die Knochen von 158 Menschen aus Afrika», sagt Ferreira.
Portugal wurde dank den Erträgen aus der Sklaverei eine Seemacht.
Nur ein ehemaliges Leprahaus vor der Stadtmauer war ihnen bereits bekannt gewesen, die Überreste von elf leprakranken Menschen hatten die Archäologen im Laufe der Grabung an einer zweiten Fundstelle seitlich der Mauer aufgespürt. Sie waren alle ordentlich bestattet worden, im Gegensatz zu den Sklaven. Deren Leichen wurden offensichtlich achtlos über die Stadtmauer in eine Abfallgrube geworfen.
Die sterblichen Überreste von 49 Heranwachsenden, 107 Frauen und Männern und zwei nicht klassifizierbaren Menschen holten die Forscher aus ihrer unwürdigen Grabstätte. Daneben auffällig wenig persönliche Gegenstände: ein Armreif, ein paar Ringe und Halsketten, ein Glasfläschchen und ein kleiner Stab aus Elfenbein.
Maria Ferreira wusste bereits, dass Lagos Mitte des 15. Jahrhunderts der wichtigste europäische Hafen für Sklaven war, anfangs sogar wichtiger als Lissabon. Doch wollte die Archäologin herausfinden, ob die Toten tatsächlich Sklaven aus Afrika waren. Konnte man aus den Knochen ablesen, welches Schicksal sie fern der Heimat erfahren hatten? Und wann und woran waren die Menschen gestorben?
Was die Knochen erzählen
Die Anthropologen begannen, die Skelette wissenschaftlich zu untersuchen. Die Forscher säuberten die Knochen, katalogisierten und vermassen sie. Das Team um Ferreira ermittelte zunächst Basisdaten der Individuen wie Grösse, Geschlecht, Alter, Verletzungen, Gesundheitszustand. Es war ein Puzzle, bei dem allerdings einige Teile fehlen oder kaputt sind. Immerhin lagen die Knochen der meisten Toten noch gut erkennbar beisammen. Einmal zugeordnet, wurde jedes Fundstück mit 3-D-Technik einzeln digitalisiert.
Mittlerweile existiert eine umfangreiche Datenbank, auf die auch Forscher aus anderen Ländern zugreifen können.
Die Analyse von Knochen ist so wertvoll, weil sie wichtige Informationen über das Leben speichern, auch über das elende Dasein der Sklaven. «Viele von ihnen waren mangelernährt und hatten als Kinder unter langwierigen Erkrankungen gelitten», sagt Ferreira.
Die Forscher fanden auch zahlreiche Knochenbrüche, die nicht richtig behandelt worden waren, an einigen Oberschenkelknochen ist der schlechte Heilungsprozess bis heute zu erkennen. Viele der Verletzungen zeigten, wie hart die Menschen wohl einst gearbeitet hätten, berichtet Ferreira. Einer der Sklaven etwa hatte sich kurz vor seinem Tod offenbar schwer verletzt, vielleicht ist er auch daran gestorben.
Viele der 158 Sklaven spürten die Folgen ihrer harten Arbeit. Sie litten an Arthrose im Knie, an Veränderungen im unteren Wirbelsäulenbereich, manche Wirbelknochen waren durch das Tragen schwerer Lasten krankhaft verändert. Obwohl die meisten Sklaven zum Zeitpunkt ihres Todes noch jung waren, zeigen ihre Knochen schon zahlreiche Schäden. Und nicht nur das – viele von ihnen litten an Karies, was auf eine stärkereiche Ernährung mit viel Getreide hinweist. Die Forscher stellten auch Zahnwurzelentzündungen fest, viele der Kiefer waren verändert, alles Anzeichen für eine Mangelernährung.
Wie es den Sklavenkindern erging, hat der Archäologe Hugo Cardoso von der Simon-Fraser-Universität im kanadischen Burnaby untersucht. An den Knochen von 23 Kindern im Alter bis zu 12 Jahren konnte er ablesen, dass sie unter erheblichem Stress gelitten hatten. Ob das an der kräftezehrenden Überfahrt aus Afrika lag, der harten Arbeit oder der schlechten Ernährung, ist nicht klar. Doch war das Wachstum der Kinder im Vergleich zu anderen Gleichaltrigen aus Afrika verlangsamt. Und die Sklavenkinder aus Lagos waren auch nicht so gut genährt wie solche aus den USA, das ergaben entsprechende Funde auf amerikanischen Friedhöfen.
Unstrittig war also, dass die Sklaven ein hartes Leben geführt hatten. Doch stammten die Toten wirklich aus Zentralafrika? Die Form der Schädel und weitere Masse wie die Grösse der Nasenhöhle oder der Augenabstand legen dies nach Ansicht der portugiesischen Anthropologen nahe. Vor allem aber fiel ihnen die Form der Zähne auf. Bei mehr als der Hälfte stellten die Forscher nämlich Veränderungen fest. Oft waren die Zähne seitlich oder mittig an den Schneidezähnen zugeschliffen. Solche abgefeilten Zähne seien typisch für Bewohner Zentralafrikas, sagt Zahnexpertin Sofia Wasterlain von der Universität Coimbra. Der Sinn des Abschleifens ist nicht ganz klar. Möglicherweise ging es den Menschen einst darum, eine Gruppenzugehörigkeit deutlich sichtbar zu machen.
Sie kamen aus Afrika
Auch eine genetische Untersuchung von zwei Skeletten bestätigte den Verdacht auf die Herkunft der Sklaven. Ihre genetischen Marker weisen auf eine westafrikanische Herkunft hin, sie ähneln denen heutiger Bantu-Stämme in der Region. Aber waren es tatsächlich die ersten afrikanischen Sklaven in Europa? Um das herauszufinden, datierten die Anthropologen die Knochen jener Individuen, die ganz unten in der Müllschicht gelegen hatten. Die Ergebnisse waren erstaunlich: Die ältesten Skelette aus Lagos stammen aus der Zeit zwischen 1440 und 1450. Der Fund stellt damit den ältesten direkten Nachweis von Sklaven in Europa dar. Und er stammt wohl von den ersten Sklaven aus Afrika.
Sklaverei ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Die Leistungen der klassischen Antike wären nicht denkbar ohne die Versklavung von Menschen, sagt etwa der Althistoriker Winfried Schmitz von der Universität Bonn. Im Mittelalter hielten sich zum Beispiel die Wikinger Sklaven. Und auch das westliche Europa mischte beim Menschenhandel kräftig mit, auch wenn es das Thema bis heute eher verschweigt. «Der atlantische Menschenhandel zwischen 1450 und 1880 wurde und wird marginalisiert», schreibt der Historiker Michael Zeuske in seiner «Geschichte der Sklaverei». Sein Fazit: Ohne Sklaven- und Menschenhandel gäbe es kein Europa. «In der Neuzeit war Europa vor allem in seinen westlichen Teilen die Heimat der Profiteure des globalen Sklaven- und Kinderhandels», so Zeuske. Historiker schätzen, dass etwa 12,5 Millionen Sklaven im Lauf der Jahrhunderte über den Atlantik gebracht und verkauft wurden.
Der wichtigste Umschlagplatz
Und genau dieser Menschenhandel nahm in Lagos seinen Anfang. Die Stadt war der erste zentrale Umschlagplatz für Sklaven in Europa. Erst danach fuhren die Schiffe weiter nach Lissabon oder Sevilla oder zu anderen Häfen im Mittelmeer oder in Nordeuropa. Historische Dokumente erwähnen Schiffe, die um 1440 mit Sklaven aus Afrika an Bord in Lagos anlegten. Anfangs wurden jährlich etwa 800 Afrikaner in Lagos verkauft, im 16. Jahrhundert verlagerte sich der Handel nach Lissabon, dort waren es deutlich mehr als 10 000 Menschen.
Portugal spielte also im 15. Jahrhundert eine Schlüsselrolle im Sklavenhandel. Dazu trug auch eine technische Neuerung bei. Heinrich der Seefahrer, der jüngere Bruder des portugiesischen Königs, liess damals die sogenannten Karavellen entwickeln, sie waren schneller und hatten weniger Tiefgang als andere Schiffe. Nur so gelang es den Seeleuten, das gefürchtete Kap Bojador zu überwinden und Zentralafrika zu erreichen. Heinrich liess seine Schiffe von Lagos aus Richtung Afrika ausfahren.
Als erste Nation errichtete man in Zentralafrika einen Handelsposten, auf einer Insel vor der Küste Mauretaniens. Und in den Listen der Handelsgüter finden sich neben Gewürzen, Gold oder Elfenbein auch Sklaven. Die Erträge aus dem Menschenhandel halfen Portugal damals, zu einer internationalen Seemacht aufzusteigen.
Sklaven eine Stimme geben
Wie es den Sklaven dabei erging, kümmerte die Mächtigen damals wenig. Bis heute ist kaum etwas über das Leben dieser Menschen bekannt. «Sie haben Ungerechtigkeit erfahren, es ist unsere Aufgabe, ihnen eine Stimme zu geben», sagt Maria Ferreira. Auch deshalb wollen die Anthropologen die Geschichte der Sklaven weiter erforschen. Und seit mehr als einem Jahr beherbergt ein kleines Museum in Lagos Informationen über die Geschichte der Sklaverei mit Hinweisen auf die 158 Toten.
Am Fundort der Opfer steht inzwischen ein Parkhaus, auf dessen Dach die Besucher Minigolf spielen können. An die toten Sklaven von Lagos erinnert hier nichts mehr.
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