
Eine schrumpfende Bevölkerung wirkt wie zu viel Alkohol: Sie bringt Menschen dazu, sich ins Intimleben von Fremden einzumischen. Ab diesem Jahr zahlt der Kanton Tessin 3000 Franken pro Neugeborenes. Mehrere Kantone aus der Romandie und der Innerschweiz belohnen ungeschützten Geschlechtsverkehr (samt Befruchtung) schon länger mit Prämien. Staaten wie Südkorea, Italien oder Frankreich haben ihre Bürgerinnen in Kampagnen zum Kindermachen aufgefordert. Die Botschaft: Patrioten verhüten nicht; sie vermehren sich fürs Vaterland. So klingen Demokratien plötzlich wie der Vatikan.
Dabei boomt die Menschheit. Gemäss Schätzungen wird sie bei der nächsten Jahrhundertwende aus 10 bis 12 Milliarden Exemplaren bestehen (heute sind es gut 7,6). Nur in hoch entwickelten Ländern geht die Bevölkerung zurück. Kaum eines davon erreicht eine Geburtenziffer von 2,1 Kindern pro Frau. Eine solche braucht es, um die Zahl der Einwohner zu halten. In der Schweiz haben sich die Werte zwischen 1,5 und 1,6 eingependelt.
Japan hat gerade einen neuen Rückwärtsrekord aufgestellt. 2018 starben über 400'000 Japaner mehr, als zur Welt kamen. Selbst China, das seinen Bürgern lange eine Ein-Kind-Politik verordnet hat, wappnet sich gegen die Schrumpfung: Abtreibungen und Scheidungen werden erschwert.
Der Staat vergreist, wird schlaff und wehrlos.
Hinter der Fortpflanzungs-Förderung stehen zwei Motive: Nationalisten sorgen sich offen um das Bestehen des eigenen Volks, wie auch immer dieses definiert wird. So warnte die nationalkonservative Zeitung «Schweizerzeit» kürzlich vor der «demografischen Sackgasse». Die Schweiz brauche eine «demografische Anbauschlacht», sonst würden die «Bio-Schweizer» bald aussterben. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán teilt diese Befürchtungen. Bis 2030 will er die 2,1 erreichen – nur mit Ungaren.
Geburtenförderer, die solche ethnischen Argumente meiden, führen den Staats-Kollaps an. Zu einem solchen führe eine schrumpfende Bevölkerung: Die Betreuung der vielen Senioren verschlingt Geld, das die wenigen Jungen nicht verdienen, der Wirtschaft fehlen Arbeitskräfte, dem Militär gehen die Soldaten aus. Der Staat vergreist, wird schlaff und wehrlos.
Das Problem von derart Besorgten ist, dass sie mit den Variablen des Industriezeitalters rechnen. «Die Idee, dass man sehr viele Menschen braucht, um das eigene Land zu verteidigen und zu entwickeln, ist altes Denken», sagte Sarah Harper kürzlich im «Guardian». Harper ist Professorin für alternde Gesellschaften an der Universität Oxford. Klar sei: Künftig würden Roboter immer mehr Aufgaben erledigen. Das mache viele Jobs überflüssig. Es brauche weniger Arbeiterinnen, diese müssten dafür umso mehr wissen. Daher sei es wichtiger, die Jungen gut auszubilden, als sie zur Fortpflanzung anzuregen, sagt Harper. Dazu komme, dass die Alten länger gesund und damit länger im Arbeitsleben bleiben würden. Die Betreuung von Kindern koste Staaten ebenfalls viel Geld. Und die Kriege der Zukunft würden nicht mehr durch die Masse der Soldaten entschieden.
Es gibt ja nicht zu wenig Menschen, sie leben nur am falschen Ort.
Harper begrüsst tiefe Fruchtbarkeitsraten. Menschen aus reichen Ländern und deren Kinder brauchen im weltweiten Vergleich besonders viel Energie. Gibt es weniger von ihnen, schont das die Umwelt. Und es bleiben mehr Ressourcen für alle anderen.
Aus einer abstrakten Sicht lassen sich Schrumpfungs-Sorgen sowieso leicht entkräften. Es gibt ja nicht zu wenig Menschen, sie leben nur am falschen Ort. Die offensichtliche Lösung? Einwanderung. Das schlagen Bevölkerungsforscher wie Sarah Harper auch vor. Damit bewegen sie sich allerdings ausserhalb des gegenwärtigen Polit-Mainstreams, der Einwanderung vor allem als Belastung sieht. Und auch die meisten «Ihr-Kinderlein-kommet»-Aufrufe – so sachlich-ökonomisch sie daherkommen – richten sich nicht an Auswärtige. Man wünscht sich nicht unbedingt mehr Menschen. Man will mehr von seinesgleichen.
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Vermehrung fürs Vaterland
Der staatliche Wunsch nach vielen Kindern basiert auf veralteten Voraussetzungen.