Leichtathletik-WM in EugeneViel Frauenpower – aber die Schweiz hat noch weit mehr zu bieten
Schnelle Frauen, sprunggewaltige Männer: Swiss Athletics stellt an der WM das beste Team seit langem. Die Ansprüche sind hoch, es gibt aber auch Fragezeichen.

Es ist nicht Moskau, Peking oder London, eine dieser Multimillionen-Metropolen – es ist Eugene, das so ländlich ist, als wäre man irgendwo in der Schweiz. Und der WM-Austragungsort in Oregon darf schon vor Beginn der Wettkämpfe heute Freitag für sich reklamieren: Es wird die WM der kurzen Wege werden. Das Schweizer Team, mit 25 Athletinnen und Athleten grösser denn je, lebt 200 Meter schräg vis-à-vis vom Stadion und ist keine Ausnahme. Das Ziel also praktisch immer vor Augen.
Und dabei ist Swiss Athletics in diesem Sommer gerade bezüglich Ziel im Zwiespalt: Denn nur drei Wochen nach der WM beginnt in München die EM. Das ist nicht schlecht geplant, sondern noch immer eine Folge von Pandemie und Verschiebungen. Trotz allen Aufschwungs in der Schweizer Leichtathletik in den vergangenen Jahren mag die europäische Bühne nach wie vor die erfolgversprechendere sein – für die meisten. Aber seit Mujinga Kambundji vor drei Jahren in Doha WM-Bronze über 200 m gewann und die Sprinterinnen in den Olympiafinals in Tokio für magische Nächte sorgten, setzt sich niemand mehr Grenzen.
Drei Techniker? Vor kurzem noch undenkbar
Und das ist das Neue an dieser grossen Schweizer Delegation: Erstmals seit Jahren (oder gar Jahrzehnten) sind gleich mehrere Männer dabei, die in die Weltspitze vorgestossen sind. Mit Simon Ehammer, dem Mehrkämpfer, der sich im März in der Halle wie ein Routinier zu WM-Silber kämpfte, gar einer, der in diesem Sommer im Weitsprung auch die Spezialisten nicht fürchtet. Im Gegenteil.
Der erst 22-Jährige, der sich nicht scheut, die Ziele klar zu formulieren («e Medaille wär scho schö»), sprang im Juni in Götzis sensationell 8,45 m und natürlich Schweizer Rekord. Freiluft führt er die Weltbestenliste noch immer an. Inklusive Halle hat Ehammer die 8-m-Marke in diesem Jahr siebenmal übersprungen und damit bereits eine Konstanz auf beneidenswert hohem Niveau. Dass er im vergangenen Sommer die Olympischen Spiele verletzungsbedingt verpasste, fuchst ihn noch heute – und treibt ihn an.

Die Konstanz geht Loïc Gasch, dem 27-jährigen Rekord-Hochspringer aus Yverdon, noch ab. Doch auch er gewann an der Hallen-WM in Belgrad die Silbermedaille (2,31 m), womit er seine Bestleistung von vor gut einem Jahr in Lausanne (2,33 m) zumindest annähernd bestätigen konnte. Der Umstand, dass er sich noch nicht einmal ein ganzes Jahr zu hundert Prozent seinem Sport widmet, verspricht weiteres Potenzial.
Gasch ist neben dem Zürcher Weitspringer Benjamin Gföhler, der seinen WM-Startplatz (mit 8,02 m) übers World Ranking ergatterte, der dritte Techniker in der Delegation. Eine solche Entwicklung war vor fünf, sechs Jahren noch nicht absehbar. Da waren es in erster Linie Alex Wilson und Kariem Hussein, die für Höhepunkte sorgten. Und im letzten Sommer mit ihren Dopingaffären die Tiefpunkte lieferten.
Die Staffel ist der Trumpf
Es ist also plötzlich nicht mehr alles Frauenpower im Schweizer Team. Auch wenn die beiden Supersprinterinnen Kambundji und Ajla Del Ponte auch in Eugene im Zentrum stehen werden. Die beiden haben acht Monate hinter sich, die nicht unterschiedlicher sein könnten – gesundheitlich und damit auch sportlich, oder umgekehrt.
Die 30-jährige Bernerin sagt vor dem 100-m-Vorlauf in der Nacht auf Sonntag zwar: «Es ist jetzt Zeit, dass es losgeht.» Doch: Müsste sie heute aus irgendeinem Grund die Saison abbrechen, wäre es dennoch eine sehr erfolgreiche gewesen. Kambundji wurde im März über 60 m Hallenweltmeisterin, viel verblüffender als das waren jedoch die 6,96 Sekunden, die sie dafür brauchte. Damit sprintete sie in einen äusserst exklusiven Kreis, erst drei Frauen sind je schneller gewesen.

Damit hatte Kambundji die Gewissheit, auf bestem Weg in den WM-Sommer zu sein – wenn sie weiter gesund bleibt. Denn das war im vergangenen Winter der Schlüssel: Sie konnte uneingeschränkt trainieren. Und das noch einmal auf leicht höherem Niveau. Als sie dann erst über 200 m (22,18) die Bestzeit verbesserte und später im Kurzsprint (10,89) den nationalen Rekord wieder an sich riss, war klar: Wenn sie dieses Niveau halten oder gar noch steigern kann, sind ihre WM-Ziele «die Finals erreichen» bloss Understatement.
Ganz anders die Ausgangslage der Olympiafünften über 100 m, Ajla Del Ponte. Erst als die Tessinerin Ende Juni am Diamond-League-Meeting in Stockholm als Schlussläuferin der Staffel im Ziel 42,13 und damit fast Schweizer Rekord aufleuchten sah, strahlte sie wieder erleichtert. Zuvor war sie mehrmals über 100 und 200 m unter ihren Erwartungen geblieben.
Eine Verletzung am hinteren Oberschenkelmuskel hatte ihren gesamten Aufbau beeinträchtigt, von einer Hallensaison hatte keine Rede sein können, und auch danach kam sie nur langsam in Fahrt. Neu war das nicht. Deshalb beunruhigte es auch ihren Trainer Laurent Meuwly nicht. Im vergangenen Jahr, als sie wegen Corona einige Wochen Training verpasst hatte, lief sie in Tokio zur Hochform auf.

Gelingt Del Ponte das auch in Eugene und passt im komplizierten Puzzle «Staffel» alles, «dann haben wir das Niveau für eine Medaille», sagt Kambundji. Die Schweizerinnen waren im vergangenen Sommer mit Platz 4 im Olympiafinal nahe dran gewesen, zuletzt blieben aber die grosse Enttäuschung und der Ärger über eine verpasste Chance. Anders als in der Vergangenheit ist das Team, das neu von Adi Rothenbühler trainiert wird, nicht mehr nur wegen der effizientesten Wechsel Weltspitze. Man ist auch dazwischen immer schneller geworden.
Newcomerinnen mit Überraschungspotenzial
Es gibt nur eine Begründung, bei Annik Kälin, Ditaji Kambundji und Chiara Scherrer von Newcomern zu sprechen: Sie starten erstmals an einer Elite-WM. Ansonsten ist da schon sehr viel Erfahrung. Denn die 22-jährige Churerin Annik Kälin, die praktisch die ganze letzte Saison wegen Rückenbeschwerden verpasst hatte, verbesserte am Tag der Arbeit im italienischen Grosseto mit 6398 Punkten den Schweizer Rekord im Siebenkampf. Und hievte sich in der Jahresbestenliste fast unbesehen auf Platz 4.

Ähnlich Chiara Scherrer (26), die über 3000 m Steeple in 9:20 Minuten Rekord lief und nun im Hayward Field auf die starken Afrikanerinnen und Amerikanerinnen trifft. Und im Fall der jüngeren Schwester Kambundji wird es spannend sein, zu sehen, wie sie das Grossveranstaltungsrennen meistert. 2021 strauchelte sie zweimal – und versucht seither, Emotionen, Aggressivität und Adrenalin in einen rhythmischen Hürdensprint zu bündeln.
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