Viele Türken in der Schweiz stimmen aus Angst nicht ab
Der Urnengang um Erdogans Verfassungsreform hat in Zürich begonnen. Zahlreiche Wahlberechtigte fürchten sich jedoch vor Spitzeln.
Auf Hass folgt Frieden. Dieser Eindruck konnte gestern vor dem türkischen Generalkonsulat in Zürich entstehen. Es war der erste Tag, an dem Türken in der Schweiz an die Urnen gehen und sich zur vorgeschlagenen Verfassungsänderung äussern können. Soll Präsident Recep Tayyip Erdogan mit noch mehr Befugnissen ausgestattet werden? Die Frage wurde und wird auch in der Schweiz kontrovers und zum Teil gehässig diskutiert. Vor diesem Hintergrund wirkt die Szene vor dem Generalkonsulat an der Zürcher Weinbergstrasse geradezu friedlich. Es herrscht ein Kommen und Gehen. Familien mit Kindern, ältere Herren, begleitet von Frauen mit Kopftuch, und Einzelpersonen arbeiten sich durch die Abschrankungen auf dem Vorplatz zur Vertretung der Türkei vor.
Schweizer Sicherheitsleute kontrollieren die Abstimmenden vor dem Eintritt. Wo sonst zwei Angehörige des Festungswachtkorps für Sicherheit sorgen, steht nun ein Container für die durch einen privaten Dienst verstärkte Wachmannschaft.
Wahlbeobachter in Zürich
Auf die Frage, ob er Angst habe einzutreten, antwortet ein linker Gegner des Präsidenten mit einem Schulterzucken. Er lege ein Nein ein. Der Kampf gegen Erdogan müsse weitergehen, unabhängig vom Ausgang des Referendums. Dass wir hier vor einem Aussenposten einer faschistischen Diktatur stehen, wie das gelegentlich von der Anti-Erdogan-Propaganda behauptet wird, wirkt wenig überzeugend. Vertreter verschiedener türkischer Parteien agieren als Beobachter. Darunter sind solche der prokurdischen oppositionellen Demokratischen Partei der Völker (HDP), deren Führer inhaftiert sind. Mit weinroten Ausweisen, die sie an einem Band um den Hals tragen, sollen die Beobachter einen freien, fairen Urnengang garantieren.
Video – Die Urnen sind geöffnet.
Ein junger Familienvater mit Frau und zwei kleinen Kindern erzählt nach der Stimmabgabe, dass er sich ursprünglich zum Nein-Lager gezählt habe. «Ich empfand es aber als gegen die Meinungsfreiheit gerichtet, dass der Kanton Zürich einen Auftritt des türkischen Aussenministers Mevlüt Cavusoglu verhindert hat.» Die Haltung der Schweiz und die zum Teil hetzerische Berichterstattung der hiesigen Medien hätten ihn am Ende dazu bewogen, doch mit Ja zu stimmen. Erdogan habe vor allem am Anfang seiner Regierungszeit extrem viel für die Türkei getan, betont der Mann, auch für die Kurden.
Angst vor Bespitzelung
Links neben dem jungen Doppelbürger steht ein Anhänger der Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP). Der Kommunist würde in der Türkei sofort als Terrorist verhaftet. Die MLKP ist dort verboten. Wohl nicht anders erginge es einem zweiten Mann rechts davon, einem Mitglied der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Er hat im syrisch-kurdischen Kobane an der Grenze zur Türkei gegen die Terrortruppe des IS gekämpft und wurde dabei dreimal verwundet. Auf neutralem Schweizer Boden, an der Weinbergstrasse, koexistieren Erdogan-Fans und sogenannte Terroristen friedlich, einen Moment lang.
Nicht alle Stimmberechtigten trauen sich allerdings in die diplomatischen Vertretungen ihres Herkunftslands. Ein erbitterter Erdogan-Gegner mit schweizerischem und türkischem Pass erzählt zum Beispiel, wie er bei der Ankunft in Istanbul von Sicherheitskräften aus dem Flugzeug geholt und verhört wurde. Er werde weder nochmals in die Türkei reisen noch ein türkisches Konsulat betreten, um dort seine Stimme abzugeben. Eine Türkin, die einen Schweizer geheiratet hat, und ebenfalls gerne Nein stimmen würde, verzichtet darauf, weil sie sonst ihre Adresse im Konsulat hinterlassen müsste. Und das will sie nicht aus Angst vor Bespitzelung.
Anzeigen wegen Ehrverletzung
Die monatelangen Einschüchterungen zeigen Wirkung. Auch deshalb bleibt es friedlich zum Abstimmungsauftakt in der Schweiz. Besonders bedroht wurden in den vergangenen Monaten im Kanton Zürich Anhänger des Predigers Fethullah Gülen. Einzelne wandten sich an die Kantonspolizei, die sie beriet. Anzeigen folgten – nicht wegen Drohungen, sondern wegen Ehrverletzung. Erstattet haben sie Einzelpersonen und Vereine, über die behauptet wurde, sie gehörten der «Fethullahistischen Terrororganisation» (Fetö) an. Indizien für eine Mittäterschaft aus der Schweiz beim Putschversuch gegen Erdogan fehlen. Die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland ermittelt nun wegen Ehrverletzung in einem Fall, wie Christian Philipp von der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft sagt.
Im Visier der Justiz steht oder stand gemäss eigenen Angaben auch Suat Sahin. Der Chef des World Turkish Business Council hatte kurz nach dem Scheitern des Staatsstreichs im Juli 2016 auf Facebook gedroht: «Wir werden gemeinsam die Höhlen der Gülen-Bewegung und der Putschsympathisanten stürmen.»
Im September trat er dann zusammen mit dem ebenfalls in der Schweiz lebenden Journalisten Mehmet Cek in einer TV-Sendung eines Erdogan-nahen Kanals auf. Dort wurden fehlerhafte Namenslisten mit dem Titel «Schweizer Fetö-Brut» eingeblendet. Genannt wurden in der Schweiz lebende Männer sowie deren hiesige Vereine und Unternehmen. Erdogan-Anhänger aus der Deutschschweiz verbreiteten daraufhin über Facebook dieselben Listen in korrigierten Fassungen. Von den Gebrandmarkten war gestern an der Zürcher Weinbergstrasse niemand zu sehen.
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