Visionär eines unheroischen Zeitalters
Die Atelierausstellung des 2018 verstorbenen Bildhauers Jürg Altherr zeigt ihn als «Schweizer Bruce Nauman».

Marmor, Stein und Eisen bricht? Eigentlich sehr selten. Die Materialien haben ihre eigene Intelligenz und spielen, wenn man sie lässt, ihre physikalischen Eigenschaften effektvoll aus. Im Innern von schweren Blöcken – das haben Bildhauer schon seit der Antike gewusst – schlummern Formen, auch wenn sie noch unsichtbar sind.
Auch Ingenieure und Architekten wissen das – und der Zürcher Künstler Jürg Altherr war Bildhauer, Ingenieur und Architekt in einem. Als er 73-jährig im Juni des vergangenen Jahres starb, hinterliess er ein Atelier voll von Etüden, die, wenn man sie so versammelt sieht, eine verblüffende Tour d'Horizon der intelligenten Materialität darstellen.
Singuläres Werk
Man las es schon in den Nachrufen: Vor lauter Aufregung um Altherrs grosse Skulpturen im öffentlichen Raum (die regelmässig von der konservativ eingestellten Anwohnerschaft angefeindet wurden) hat man in der Schweiz etwas Wichtiges an diesem singulären Werk verpasst. Da war doch noch was, das sich zwar in den umstrittenen Skulpturen wie «Turm» von Uster, «Pechmarie» von Wollishofen oder «Körper ohne Haut» von St. Gallen ebenfalls aufs Schönste offenbarte, aber weit über diese hinausging. Bloss was war es? Es blieb nebulös, und ein Nachholbedarf wurde offensichtlich.

Nun gibt es Gelegenheit zu einer vertieften Wiederbegegnung. Und zwar direkt an jenem Ort, wo der Künstler am liebsten über die «Organisation der Leere» (so der Name einer anderen Skulptur) nachdachte – in seinem schmalen, hohen Atelier auf dem Gaswerkareal in Schlieren. Dieses benutzte Altherr seit 1984, als ein Exponent der von ihm mitgegründeten Arbeitsgemeinschaft Zürcher Bildhauer durfte er die städtische Immobilie als einen (im Winter unbeheizten) Arbeitsraum beanspruchen.
Nun, nach seinem Tod, wird das Atelier anders zugeteilt. Bevor es aber so weit ist, hat Tochter Johanna, eine Szenografin, unterstützt vom Kunsthistoriker Stefan Wagner sowie Mutter Thea und Schwester Nora, die Aufgabe der Sichtung und Neuordnung übernommen. Die daraus resultierende Atelierausstellung zeigt vieles, was man in der einen oder anderen Form schon kennt. Und doch ergibt das Ensemble von Skulpturen, Fotos, Skizzen, Modellen und Notizen ein dichteres, genaueres Bild dieses trotz der Neigung zur Grösse eigentlich stillen, nachdenklichen Werks.
Die Ernsthaftigkeit seiner Auseinandersetzung mit der Zone, wo die Unendlichkeit und die Erde zusammenkommen – und das ist ja zufällig gerade der Lebensraum von uns Menschen –, verdient eine grössere Sichtbarkeit. Doch Altherrs künstlerischer Werdegang vollzog sich in einer Zeit, als die zeitgenössische Kunst aus der Schweiz noch keinen direkten Weg an die internationale Öffentlichkeit fand.
Die Blüte von Altherrs Entwicklung, als er nach den anfänglichen Steinskulpturen und späteren Experimenten mit menschlichen und tierischen Formen seine eigentliche Domäne fand – die man hier den «Physikalischen Minimalismus» nennen könnte –, spielte sich in den 80er- und 90er-Jahren ab. In dieser Zeit, erinnern wir uns, konsolidierte sich das «Zürcher Kunstwunder» erst, das 1996 im Einzug der Kunsthalle und einiger Galerien ins Löwenbräu gipfelte. In den Jahren davor konnte es in Zürich leicht passieren, dass selbst Jahrhunderttalente wie der Bildhauer Hans Josephsohn unbekannt in einem Atelier am Stadtrand ihrer Arbeit nachgingen.
Dieses Unbehelligtsein hatte auch seine Vorteile, und Tochter Johanna erinnert sich an die glücklichen Stunden schöpferischer Konzentration ihres Vaters im Atelier, als er an der Lösung von kniffligen Materialaufgaben tüftelte. Die genialen Skulpturen Altherrs entstanden erst als Modelle, en miniature, und sind für sich genommen ebenfalls beachtenswerte Kunstwerke. Doch natürlich konnte eine Glanzleistung wie etwa die Skulptur «Equilibre», die am Strandboden in Biel steht, erst in ihrer vollen Grösse (20 Meter) das wunderbare Spiel von Schwere und Leichtigkeit so richtig entfalten.

Massige Chromstahlrohre werden hier mit Seilen in der Schwebe gehalten, die ihrerseits von einem an ihnen hängenden Betonblock stabilisiert werden. Noch eindrücklicher, wenn der gelernte Landschaftsarchitekt die Vegetation involviert, wie im immer dichter zuwachsenden «Heckenkörper» bei der Empa in St.Gallen, wo Hainbuchen in die Struktur aus Stahl hineinragen.
20 Tonnen schwere Wasserplastik
Ihr Vater, erzählt die Tochter, habe mit dem Ausbleiben des internationalen Ruhms nicht gehadert, schliesslich sei ihm in seinem unmittelbaren Lebenszusammenhang die Realisierung vieler Projekte möglich geworden wie etwa der 20 Tonnen schweren Wasserplastik in der Kuppel der ETH oder der spektakulären Lärmschutzwand bei Emmen. Vielleicht dachte der «Schweizer Bruce Nauman» auch an sein grosses amerikanisches Idol, den ebenfalls an physikalischen Gesetzen und existenziellen Zusammenhängen interessierten Installationskünstler Nauman. Dieser hat zwar viel internationale Aufmerksamkeit erfahren, sich ihr aber auf seiner Ranch in New Mexico radikal entzogen, um in Ruhe arbeiten zu können.
Wenn es heute als politisch empfunden wird, der Erde, auf der wir leben, dem Raum, in dem der Mensch mit der Natur interagiert, ernsthaften Respekt zu zollen, dann war Altherr ein zutiefst politischer Künstler – ein Visionär eines unheroischen Zeitalters.
Atelierausstellung an der Turmstrasse 5 in Schlieren bis zum 13.10. Am 6.10. Lesung mit Ruth Schweikert, 12.10. Rundgang mit Markus Landert.
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