Vom Elektroingenieur zum Derwisch
Der St. Galler Peter Hüseyin Cunz ist Scheich des Sufi-Ordens Mevlana. In den Augen hiesiger Islamvereine ist der liberale Konvertit ein Dissident.

Konvertierte, wird gerne behauptet, verhalten sich gegenüber ihrer Wahlreligion ganz und gar unkritisch. Der St. Galler Peter Hüseyin Cunz ist Konvertit. Als er aber kürzlich vom Kulturministerium der türkischen Stadt Konya für seine Verdienste um die Sufi-Kultur geehrt wurde, sagte er in seiner Rede vor vorwiegend muslimischem Publikum: «Der Hass und der Krieg unter Muslimen sind lebendige Beweise für unsere beschränkte Sicht und unseren mangelnden Willen, Gottes Grösse und Universalität anzunehmen. Der Argwohn der Europäer gegen den politischen Islam ist berechtigt.»
Reformiert aufgewachsen, trat er mit 22 Jahren aus der Kirche aus. Wie so viele seiner Generation suchte er in fernöstlichen Religionen nach Antworten – er im Zen-Buddhismus. Zur Zeit seines ETH-Studiums als Elektroingenieur machte er «als Halb-Hippie mit langen Haaren» auf seiner Weltreise Halt in Kathmandu. Der Buddhismus vermochte ihn aber nicht zu überzeugen. Er heiratete die Tochter eines indischen Imams und wurde ihretwegen Muslim – ein formloser Akt. Weil er später den kleinen Hadsch, die kleine Pilgerfahrt, nach Medina und Mekka machen wollte, musste er aber doch noch das Papier haben, das ihn offiziell als Muslim auswies. Zur Schau gestellt hat er seine Religion nie. Er arbeitete bereits drei Jahre als Sektionschef im Bundesamt für Energie, als die Mitarbeiter über einen «Facts»-Artikel von seinem «interessanten Hobby» erfuhren.
Derwische in der Kirche
Seine eigentliche geistige Heimat hat der 67-Jährige in Konya gefunden: Die stark religiös geprägte Stadt ist auch Zentrum des Mevlana-Ordens. Der Gründer, Mevlana Celaleddin Rumi, wirkte dort im 13. Jahrhundert als Sufi-Lehrer und Mystiker, verfasste 36 000 Verse und sein Lehrbuch «Masnawi» mit Hunderten von Geschichten. Bis heute ist er ein Heiliger mit Kultstatus, zu dessen Grab Millionen Sufi-Begeisterte pilgern. Auf Rumi geht auch das Sema zurück, das Hören auf den Klang der anderen Welt. Bei diesem Ritual drehen die Derwische mit ihren weiten Röcken um die eigene Achse.

Cunz ist heute zum zweiten Mal verheiratet, diesmal mit einer Pfarrerstochter. Er ist einer der vier Scheichs des Ordens im Westen und kultiviert das Drehritual regelmässig – jede Woche übungsweise in einem Raum in Schlieren und vierteljährlich öffentlich in der Kirche St. Jakob beim Zürcher Stauffacher. Mit anderen hat er die Grundlagen des Rituals, das Wesen der Derwische, der Musiker, der Instrumente und der Kleidung für die Unesco festgelegt. So konnte diese das Sema 2007 ins Weltkulturerbe aufnehmen.
Nicht von ungefähr tanzt Scheich Cunz mit den Mitgliedern seines Vereins in der Kirche – nach Ansicht der Moscheevereine vertritt der Mevlana-Orden einen viel zu freiheitlichen Islam. Er gehört zur mystischen Richtung des Sufismus und vertritt wie die christliche Mystik eine negative Theologie: Man kann von Gott kein Bild machen, kein Begriff kann ihn angemessen beschreiben. Die Übereinstimmung mit der christlichen Mystik ist so gross, dass Cunz gerne auf die Werke dieser Mystiker zurückgreift: auf Meister Ekkehart, Angelus Silesius, Jakob Böhme. So kommt es, dass Cunz selbstverständlich interreligiös unterwegs ist und etwa im Lassalle-Haus der Jesuiten Sufi-Kurse gibt.
Auch Frauen dürfen drehen
«So, wie wir den Sufismus leben, ist er mit dem orthodoxen sunnitischen Islam nicht vereinbar», sagt Cunz. Der Mevlana-Orden und seine Klöster sind seit Atatürk von der Verfassung untersagt. Die Situation ist schizophren: Der Orden ist zwar als Spiritualität verboten, als Kulturgut wird das Sema jedoch gefördert und vermarktet. Konya ist für Sufi-Pilger aus aller Welt zum Magnet geworden. Cunz ist ständig zum Spagat zwischen restriktiv-türkischer und liberal-westlicher Religiosität gezwungen. «Als Scheich bin ich ein Lehrbeauftragter mit der Erlaubnis, die Sufi-Tradition so zu lehren, wie ich es für richtig halte.» Cunz hat im Schweizer Zweig des Ordens für die Gleichberechtigung der Frauen und ihre Teilnahme am Drehritual gekämpft. Unter dem Schutz des säkularen Schweizer Staates hat er ein ganz anderes Gesicht als in der Türkei.
Waren die hiesigen Islam- und Moscheeverbände anfänglich noch interessiert am professionell auftretenden Scheich Cunz, so rümpfen sie heute die Nase über den Sufi-Exoten. «Ich bin für sie kein richtiger Muslim, sondern ein Häretiker und Dissident», sagt er selber. Umgekehrt kritisiert er die Verbände dafür, dass sie einem politischen Islam verpflichtet sind und versuchen, ihre angestammten Rechte, etwa Dispensen vom Schwimmunterricht, auch in der Schweiz durchzusetzen.
Keine Wohlfühl-Spiritualität
Einem anpassungsfähigen und reformorientierten Islam verpflichtet, wurde Cunz immer islamkritischer. Er bedauert, dass 90 Prozent der Muslime nicht zu denken wagten, dass der Islam auch anders sein könnte, als sie es in der Kindheit gehört hätten. «Gegen mich haben sie kein anderes Argument als die Tradition.» Die Traditionsfixierung seit dem 19. Jahrhundert ist in den Augen von Cunz gerade das Problem: Sie lasse eine zeitgemässe Koran-Exegese und eine Modernisierung der Religion nicht zu. Zukunftsfähig ist für ihn aber nur ein Islam, der in jeder Zeit neu interpretiert wird und auf das Individuum ausgerichtet ist. So wie den dogmatisch-juridischen Islam lehnt er aber auch die Beliebigkeit der Esoterik ab. «Ich bin ein grosser Kritiker der Wohlfühl-Spiritualität.» Und darum sei der Mevlana-Orden hier in der Schweiz mit 20 bis 30 Personen so klein geblieben.
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