Anwältin aus AfghanistanVom Flüchtlingskind zur Rechtsanwältin
Die Afghanin Rehana Popal hat in England vorgemacht, dass man es von ganz unten tatsächlich nach weit oben schaffen kann.

Die BBC hat sie zu einer der 100 wichtigsten Frauen des laufenden Jahres erkoren, die Biografie von Rehana Popal zeigt, warum. Die 31-jährige englische Rechtsanwältin kam als afghanisches Flüchtlingskind nach England, zusammen mit ihren Eltern und den drei Geschwistern, sie war die Jüngste. Popal hatte es also ungleich schwerer als alle anderen Anwärterinnen und Anwärter auf diesen Beruf.
Die Familie kam in einer Wohnung in London unter. «Keiner von uns sprach damals Englisch», sagt sie im Gespräch mit «The Bar Council», einer Fachpublikation, die sich um die Interessen von Anwälten kümmert. Aber ihre Eltern hätten darauf gedrängt, dass die Kinder die Sprache lernten. Wie die jüngste Tochter auf ihren Berufswunsch kam, klingt nachgerade exzentrisch. Eines Tages sei sie aus der Schule heimgekommen und habe ihren Bruder vor dem Fernseher angetroffen. «Er schaute Männern in Perücken zu, die in einem Gerichtssaal verhandelten», erinnert sie sich.
Mit neun Jahren wusste sie es
Diese Männer in Perücken hätten sie fasziniert, und sie habe an diesem Tag beschlossen, Anwältin zu werden mit Schwerpunkt Menschenrechte. Rehana Popal war damals neun Jahre alt. «Alles, was ich von jenem Moment an unternahm», erinnert sie sich, «stand im Dienst einer juristischen Karriere.»
Bis es so weit war, also bis zum Jusstudium, dauerte es lange, wobei die Aufsteigerin doppelt benachteiligt war. So brauchte sie eine gewisse Zeit, um überhaupt Englisch zu lernen. Dazu kamen auffällige Lernschwierigkeiten, bei denen sich mit der Zeit herausstellte, dass die Schülerin auch noch dyslexisch war.
An eine der führenden Universitäten reichte es nicht, dafür kam Popal in der Londoner City University unter, wo sie internationale Beziehungen studierte. Dann schloss sie eine Weiterbildung an, um ihren gewünschten Beruf zu erlernen. «Erst dort realisierte ich, wie wettbewerbsorientiert (‹competitive›) das Studium verlief» – und wie viele ihrer Konkurrenten weisse Männer waren, die in Cambridge oder Oxford studiert hatten. «Ich sah fast niemanden, der aussah wie ich.» Bis heute ist Rehana Popal die einzige afghanische Rechtsanwältin Englands.
Geld bleibt das grösste Problem
Während des Studiums wurde ihr immer mehr bewusst, dass sie ihre Herkunft zum Studienziel machen würde. Mit einem Freund lancierte sie eine Nichtregierungsorganisation, die sich um Zwangsvertriebene kümmerte, vor allem in ihrer afghanischen Heimat. Sie reiste dorthin zurück und unterhielt sich mit Beamten der damaligen Regierung sowie mit Taliban. Später vertrat sie als Juristin afghanische Zivilisten, die unter den Menschenrechtsverletzungen der britischen Besatzungstruppen gelitten hatten.
Was war das Schwierigste für sie bei ihrem Aufstieg? In ihren Beruf habe sie es auch mit Rassismus und Frauenhass zu tun bekommen, zitiert sie die Londoner «Times». Bei der Ausbildung aber seien die Finanzen das grösste Problem gewesen, sagt sie. Ohne ein Stipendium der Hilfsorganisation Inner Temple, die schon im 14. Jahrhundert gegründet worden sei, hätte sie ihr Berufsziel niemals erreicht.
Neben vielem anderen engagiert sich die junge Rechtsanwältin in Organisationen, die sich für Gleichberechtigung und kulturelle Vielfalt einsetzen. Ihr wichtigster Rat: «Gebt nicht auf.» Typisch.
Jean-Martin Büttner studierte Psychologie, Psychopathologie und Anglistik und dissertierte über die Psychoanalyse der Rockmusik. Von 1984 an arbeitete er für den «Tages-Anzeiger» in den Ressorts Kultur, Inland, Hintergrund, Analyse sowie als Korrespondent. Seit Anfang 2021 schreibt er als freier Autor.
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