
«Wenn Sie als Kind keine Anerkennung bekommen, entwickeln Sie kein gesundes Selbstwertgefühl. Schreiben Sie das gross.» Guido Fluri sagt es irgendwann während des rastlosen Gesprächs, in dem es um tausend Dinge geht. Vor allem um Erfahrungen während der Kindheit und was sie mit den Menschen machen. Dass man sie nie loswird, aber damit leben lernt und konstruktive Energie daraus schöpfen kann. Doch es geht auch um Arbeit, Familie, Politik. Guido Fluri, der 50-jährige Immobilienunternehmer, der aus dem Solothurnischen stammt und in Cham ZG lebt, redet ohne Pause. Und doch mutet es nicht an wie ein Referat oder ein Monolog. Langweilig ist es schon gar nicht.
Das meiste über Fluri ist bekannt: Sohn einer damals 17-jährigen Serviertochter, die kurz nach der Niederkunft an Schizophrenie erkrankt, der Vater anderweitig verheiratet. Kindheit im Heim, bei den Grosseltern und anderen Leuten, Schwierigkeiten in der Schule, Abbruch der Lehre. Mit den ersten paar Tausendern, die er als Tankwart spart, erhält der 20-Jährige einen Kredit und kauft ein Grundstück – der Boden, auf dem sein Unternehmen entsteht.
Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde Fluri vor ein paar Jahren, als er die Rechte an den Miss-Schweiz-Wahlen kaufte und die Wiedergutmachungsinitiative lancierte. Mehr und mehr avancierte er zum Sprecher aller, die Opfer der bis 1981 behördlich praktizierten Zwangsmassnahmen geworden sind: im Heim oder als Verdingkinder missbraucht, Kindeswegnahmen wegen «liederlichen Lebenswandels», Zwangssterilisation oder Wegsperren ohne Gerichtsbeschluss.
Menschenwürde zurückgeben
Das vergangene Jahr allein würde ein Kapitel in seiner Biografie füllen, Fluris persönliches Schicksalsjahr. Es begann mit der Diagnose. Der 2005 erstmals festgestellte Hirntumor war gewachsen, musste dringend herausoperiert werden. Nicht jetzt, befand Fluri, der Entscheid des Nationalrats über den Gegenvorschlag zu seiner Initiative stand kurz bevor. Fluri hatte Jahre damit verbracht, Politiker für einen Fonds und die Aufarbeitung der Geschichte zu gewinnen. Die Operation verschob er. Er sei durch die Wandelhalle gewankt, erzählt er, wegen Gleichgewichtsstörungen, die der Tumor verursachte. Zur gleichen Zeit zerbrach seine Ehe nach 17 Jahren. Man hatte sich auseinandergelebt. Fluris Monster-Arbeitstage hatten das ihre dazu beigetragen.
Doch dann der grosse Moment: Der Nationalrat sagte Ja zum Gegenvorschlag, zum Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981. Während das Initiativkomitee den Etappensieg feiert, eilt Fluri zur Operation ins Spital. Wenig später trifft er wieder Parlamentarier zum Gespräch. Keine Pause. «Ich wollte nicht aufgeben auf den letzten Metern.» Der Einsatz lohnt sich, im Herbst befürwortet auch der Ständerat den Gegenvorschlag. Im Vorzimmer fliessen Tränen, Betroffene fallen sich in die Arme. Die Initiative wird zurückgezogen.
«Ich wollte nicht aufgeben auf den letzten Metern.»
Eine der angereisten Betroffenen war Ursula Biondi. Die Zürcherin hatte ihre Erfahrungen als administrativ Versorgte 2002 in einem Buch publiziert. Sie sagt: «Guido Fluri hat den Opfern einen grossen Teil der Menschenwürde zurückgegeben.» Die Aufarbeitung der Zwangsmassnahmen habe zwar schon vorher begonnen, doch Fluri habe diesem Prozess grossen Schub verliehen, «nicht nur mit Geld, sondern vor allem mit seiner Power und Hartnäckigkeit».
Fluri stiess im Parlament auf eine linke Hälfte, die naturgemäss mit der Wiedergutmachung und Aufarbeitung früherer staatlicher Fehler sympathisiert. Die Bürgerlichen wollten davon nichts wissen. Politiker aus FDP und SVP sagten ihm ganz direkt, sie hätten auch eine schwierige Kindheit gehabt und verlangten deswegen kein Geld vom Staat. Zudem habe es auch glückliche Verdingkinder gegeben.
Einer der Ersten, die sich umstimmen liessen, war der Luzerner SVP-Nationalrat Felix Müri. «Dass ich den Gegenvorschlag befürwortete, hatte direkt mit der Person Guido Fluri zu tun», sagt Müri. «Er hat das Anliegen so gefühlvoll und menschlich vermittelt. Und er hat die Schuldfrage nie ins Zentrum gestellt.»
Angst vor dem Tod
Fluri als politische Integrationsfigur – auch dieser Tage wieder, als er in Zürich eine Beratungsstelle eröffnete für Menschen, die mit Entscheiden der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) nicht zurechtkommen. Fluri ist auf der Seite der Behördenopfer, die so zahlreich an ihn gelangt sind. Doch er sagt auch: «Der Kindes- und Erwachsenenschutz ist wichtig. Ich will die Behörde stärken.» Und so kam es, dass selbst der Bund und die Dachorganisation der Kesb das Sorgentelefon unterstützen, das sich an Unzufriedene ihrer eigenen Behörde richtet. Die Nachfrage ist gross, das Telefon der Anlaufstelle läutet ununterbrochen.
Wen immer man zu Guido Fluri befragt, man hört nur Lob. Wo ist die andere Seite? Sicher ist, dass ein erfolgreicher Unternehmer wie er nicht ausschliesslich philanthropische Entscheide fällt. Sicher liessen sich enttäuschte frühere Geschäftspartner auftreiben. Vereinzelt gab es kritische Medienberichte, etwa über einen Immobilienkauf und -verkauf in Greifensee, bei dem Fluri acht Millionen Franken Gewinn machte. Doch verwerflich ist das nicht, zumal ein Drittel der Gewinne seiner Beteiligungen und Immobilien – «jährlich ein paar Millionen Franken» – in die Stiftung fliesst, aus der Projekte im Bereich Soziales und Gesundheit finanziert werden. Etwa die Beratungsstelle, aber auch Projekte über Hirntumore und Schizophrenie.
Irgendwann hört man auf, sich zu schämen für die Herkunft, die Eltern, schlechte Schulnoten.
Fluri hat auch das Kinderheim in Mümliswil SO gekauft, in dem er kurze Zeit gelebt hatte. Es ist heute eine Gedenkstätte. Vieles, was er macht, hängt direkt mit seinen Erfahrungen zusammen: Heimaufenthalt, Hirntumor, Schizophrenie. Einfluss auf sein Wirken haben aber auch Erlebnisse wie der frühe Tod des Grossvaters und kurz darauf seines Onkels, den er sehr gern gehabt hatte. «Das hat mir den Boden unter den Füssen weggezogen.» Wenig später brannte das grosselterliche Haus nieder. Bilder, die sich einprägten.
Das alles habe ihn zäh und widerstandsfähig gemacht, sagt Fluri. Und es treibt ihn noch heute an. «Es gibt Ängste, die kann man nicht wegtherapieren», sagt er einmal. Man könne nur lernen, damit umzugehen. Die Angst vor dem Tod sei so eine oder die Existenzangst. Sie hat mit den finanziellen Verhältnissen nichts zu tun, verfolgte Fluri auch noch, als er längst Multimillionär war. Die Zeit helfe, sagt er heute, und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. «Die analytische Verarbeitung gibt Selbstsicherheit.» Irgendwann hört man auf, sich zu schämen für die Herkunft, die Eltern, schlechte Schulnoten. Akzeptiert alles als Teil der eigenen Geschichte. Es ist der Beginn der Versöhnung. «Mit 30 Jahren war ich noch in der Spirale drin», sagt Fluri. Inzwischen habe er vieles losgelassen.
Aus nichts wahnsinnig viel gemacht
Wobei – Baustellen gibt es genügend. Aktuell der «Normenkonflikt», wie Fluri es nennt, zwischen seinen religiös-moralischen Wertvorstellungen und der Wirklichkeit. Eine Scheidung hatte der gläubige Katholik für seine Biografie nicht vorgesehen. Eine Freundin kurz nach der Trennung auch nicht. Irgendwann wird er seinen drei Kindern erklären, warum auch dieser Weg mit christlichen Grundsätzen vereinbar ist. Sobald er die richtigen Worte dafür hat. Er schwärmt von seiner neuen Partnerin: Sie ist aus Portugal in die Schweiz gezogen, ohne Deutschkenntnisse, hat hier als Ökonomin promoviert. Aus nichts hat sie wahnsinnig viel gemacht. Genau wie er.
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Von einer Baustelle zur nächsten
Guido Fluri hat ein Schicksalsjahr hinter sich: Tumoroperation, Scheidung, politischer Durchbruch. Seine Kindheitserlebnisse treiben ihn an.