«Von Gott und der Welt verlassen» – Leben auf der «Gorch Fock»
Der deutsche Verteidigungsminister Guttenberg hat das Militärschiff nach Hause zurückbeordert und den Kapitän abgesetzt. Jetzt schildert eine junge Offiziersanwärterin das Leben an Bord.
Die Rekrutin Maria S. fuhr als eine von wenigen weiblichen Offizieranwärtern auf dem Segelschulschiff «Gorch Fock», als die Kadettin Sarah Lena Seele am 7. November aus der Takelage der Bark auf das Deck stürzte und dabei ums Leben kam. Jetzt gab sie der Nachrichtenagentur dapd ein Interview über die angeblichen Zustände an Bord.
Wie fühlt es sich an, auf der «Gorch Fock» zu fahren? Solange das ganze im Hafen stattfindet - mit Musikkorps und Ausgehuniform - ist das natürlich eine ganz grosse Sache. Die Familie steht am Ufer, winkt mit dem Taschentuch. Das hat wirklich etwas von Seefahrer-Romantik. Doch sobald man auf See ist, sieht die Welt ganz anders aus. Wenn ich in dem Masten rumturnen musste oder nachts auf Wache stand, dachte ich oft nur: Hier bist Du von Gott und der Welt verlassen.
Inwiefern? Die Zustände sind - sowohl was das Schiff angeht, als auch in der Führung - vorsintflutlich. Geschlafen wird in Hängematten, in einer Art Zwischendeck. Privatsphäre gibt es nicht. Besonders als Frau hat man das Gefühl, sich aufgeben zu müssen. Ich habe mir am dritten Tag gesagt: Du schaltest jetzt auf stumpf; ansonsten überlebst du das hier nicht.
Dann die Hierarchie: Zu oberst kommen die Offiziere und die Ausbilder, dann die Stammbesatzung bis zum letzten Matrosen und ganz unten dann die Kadetten. Die Besatzung kann das Schiff auch ohne uns fahren. Das geben vor allem die Mannschaften den Offiziersanwärtern bei jeder Gelegenheit zu verstehen. Da wird gebrüllt, da wird gedrillt, das ist systematisches Schleifen wie in einem schlechten Film.
Wie äussert sich das? Beim Reinschiffmachen, also dem Putzen, darf auch gerne mal die ganz kleine Bürste oder die Zahnbürste genutzt werden. Schlaf gibt es kaum, und wenn, dann nur wenige Stunden am Stück. Und gebrüllt wird eigentlich immer.
Wurden die Kadetten gezwungen, in die Takelage zu klettern? Der Druck war ständig da. Es ist vom ersten Tag an klar: Wer nicht spurt, der fliegt - zuerst nach Hause, dann aus der Offiziersausbildung. Wer was nicht richtig oder nicht schnell genug macht, wird angeschrien. Auf Ängste oder Unsicherheiten wird keine Rücksicht genommen. Da ist es egal, ob du müde bist oder fertig oder keine Kraft mehr hast. Wenn Aufentern befohlen ist, dann musst du in die Takelage. Alles andere ist Gehorsamsverweigerung.
War Schlafmangel ein Problem bei diesem Törn? Schlafmangel war für mich, aber auch andere Kameraden, das grösste Problem. Die wechselnden Wachen, das Nächtigen auf dem engen Raum in den rückenunfreundlichen Hängematten und der enge Dienstplan - alles die reinsten Schlafkiller. Wer sich krank meldet, gilt schnell als Drückeberger und wird sowohl von den anderen Offiziersanwärtern als auch von der Besatzung geschnitten. Wegen der ständigen Übermüdung sind in Kameradenkreisen Koffeintabletten beliebt. Doch auch die gehen ja irgendwann zu Ende oder kommen an ihre Grenzen. Es gab auch Gerüchte, dass die Offiziersanwärterin, die vor einem Jahr über Bord gegangen war, schlicht während der Wache eingeschlafen ist und deshalb über Bord fiel.
Die beiden letzten schweren Unfälle auf der «Gorch Fock» betrafen weibliche Offiziersanwärter. Haben es Frauen an Bord besonders schwer? Wir sind als Frauen in einer Männerdomäne natürlich in einer ganz besonderen Situation. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es auf Flottenpraktika und auf der «Gorch Fock» zum Teil sehr offenherzig zugeht. Besonders die Stammbesatzung rechnet sich bei den weiblichen Offiziersanwärtern, die ja meist jung und ledig sind und nur drei Monate an Bord bleiben, gute Chancen aus.
Kam es zu sexuellen Übergriffen? Nicht direkt. Aber an eindeutigen und übereindeutigen Angeboten hat es wahrlich nicht gemangelt. Manche Frauen haben das auch als bedrängend empfunden. Nicht umsonst ist die «Gorch Fock» in Offiziersanwärterkreisen auch als «grösster schwimmender Puff Deutschlands» verschrien. Da gibt es immer wieder Geschichten, die wohl auch in Beschwerden und Eingaben anhängig sind.
Was muss sich bei der Ausbildung Ihrer Meinung nach ändern? Es braucht mehr Sinn und Verstand und weniger Drill. Wenn ich einem angehenden Offizier beibringen will, wie sich ein Schiff, die Seefahrt und Härte auf See anfühlen, dann muss ich ihn nicht künstlich durch übertriebene Härte und Männlichkeitsgehabe an Grenzen führen, die nicht nötig und gefährlich sind. Und auch wenn das keiner zugibt: Viele weinen sich in den Schlaf, weil sie dem Druck nicht standhalten. Das muss doch nicht sein.
dapd/oku
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