«Vor 30 Jahren war in Indien nur schon das Wort Vergewaltigung tabu»
Seit dem Tod einer Studentin nach einer Gruppenvergewaltigung häufen sich in Indien die Berichte über Sexualdelikte. Steigt die Zahl der Verbrechen wirklich? Oder schenkt man ihnen nur mehr Aufmerksamkeit?
Wütende Frauen demonstrieren, Experten diskutieren über die Ursachen der Gewalt - in Indien ist nach der Gruppenvergewaltigung einer Studentin in Delhi einiges in Gang gekommen. Und doch vergeht kaum ein Tag ohne Schlagzeilen über ein weiteres grausames Sexualverbrechen.
Selbst die obersten Richter sind ratlos. «Was läuft falsch im System?» fragen Rajendra Mal Lodha und Madan Bhimrao Lokur in einer Erklärung, die sie in der vergangenen Woche herausgaben. Anlass war eine Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof: Es ging um die Petition eines Familienvaters, dessen 15 Jahre alte Tochter von drei Männern vergewaltigt wurde.
Viele arbeitslose Männer beteiligt
Das Mädchen ist eine Dalit, eine «Unberührbare», wie die Nachrichtenagentur PTI berichtete. Nach der Vergewaltigung im vergangenen Jahr wurde sie der Schule verwiesen. Doch für die Familie kam es noch schlimmer: Weil sich die Mutter des Mädchens weigerte, die Anzeige bei der Polizei zurückzuziehen, wurde sie ermordet.
Die Berichte über Gruppenvergewaltigungen in Indien mehren sich. Nehmen diese Verbrechen zu? Oder schenkt man nun lediglich einem Problem Aufmerksamkeit, das lange im Verborgenen blieb, von Familien oder Dorfgemeinschaften wie ein Geheimnis gehütet? Nach Ansicht von Experten ist beides der Fall.
«Noch nie zuvor haben wir von so vielen Gruppenvergewaltigungen erfahren, und noch nie zuvor waren so viele junge, arbeitslose Männer beteiligt», sagt Kirti Singh, Frauenrechtsaktivistin und Anwältin am Obersten Gerichtshof. Eine verlässliche Kriminalitätsstatistik gibt es zwar nicht, doch den Menschen reicht der wahrgenommene Trend. Sie machen ihrem Ärger über die lange ignorierte Welle der Gewalt gegen Frauen öffentlich Luft.
23-Jährige nach Vergewaltigung gestorben
Auslöser der Proteste war der Tod einer jungen Studentin, die im Dezember in einem Bus in Delhi von mehreren Männern vergewaltigt und so schwer verletzt wurde, dass sie zwei Wochen später starb. Der Fall sorgte weltweit für Aufsehen, ebenso der erste Schuldspruch: Am Samstag verurteilte ein Gericht den jüngsten Täter, zum Tatzeitpunkt noch minderjährig, zu drei Jahren Arrest - der Höchststrafe, die das Jugendstrafrecht vorsieht. Den anderen Angeklagten droht die Todesstrafe.
Gewalt gegen Frauen ist in Indien Alltag, und die Dunkelziffer ist hoch. Doch das Martyrium der 23-jährigen Studentin rüttelte das Land auf. Die Menschen waren gleichermassen schockiert wie beschämt. Tausende gingen auf die Strassen.
Die Regierung musste reagieren: Sie liess Schnellgerichte einsetzen und verdoppelte die Höchststrafe für Vergewaltiger, Voyeurismus und Stalking werden künftig als Straftat geahndet. Nach der Gruppenvergewaltigung einer Schweizer Touristin im März startete das Tourismus-Ministerium eine Imagekampagne und liess Buttons verteilen mit der Aufschrift «Ich respektiere Frauen».
Ende August erschütterte erneut ein brutales Sexualverbrechen das Land und füllte die Schlagzeilen: In Mumbai vergewaltigten mehrere Männer eine junge Fotografin, die mit inneren Blutungen ins Krankenhaus kam. Wieder diskutierten Experten in Talkshows über die Frage, was man für die Sicherheit von Frauen in Indien tun könnte.
Die fünf mutmasslichen Vergewaltiger von Mumbai hatten entweder gar keinen oder nur einen niedrigen Bildungsabschluss, sie lebten in Elendsquartieren in der Nähe des Tatorts. Ihr Opfer gehörte ebenso wie die in Delhi getötete Studentin einer höheren sozialen Schicht an. Diese «Klassen-Dimension» verstärke die öffentliche Empörung, sagt die Frauenrechtlerin Flavia Agnes.
Dominanz unter Beweis stellen
Fachleute sind der Ansicht, dass die zunehmende Gewalt gegen Frauen in der grösser werdenden Kluft zwischen Reich und Arm und im rasanten Wachstum indischer Städte begründet liegt. Inmitten dieses Wandels gebe es junge Männer, die ihre traditionelle Dominanz unter Beweis stellen wollten - egal mit welchen Mitteln. «Das sind junge Männer ohne Perspektive, ohne Hoffnung. Sie sind wütend auf diejenigen, die in ihren Augen all das haben», erklärt der Psychoanalytiker Sudhir Kakar.
Stigmatisierung, politische Apathie und eine inkompetente Justiz haben Inderinnen lange davon abgehalten, eine Vergewaltigung zur Anzeige zu bringen. Das hat sich seit Dezember geändert. In den ersten drei Monaten nach der Vergewaltigung der Studentin in Delhi wurden in der Stadt 359 Sexualverbrechen gemeldet - zweieinhalb Mal so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die tatsächliche Zahl der Delikte dürfte zwar um ein Vielfaches höher liegen, allerdings zeigt der Anstieg der offiziell registrierten Fälle, dass ein Wandel im Gange ist.
«Vor 30 Jahren war es fast tabu, das Wort Vergewaltigung überhaupt nur auszusprechen», sagt Ranjana Kumari, Frauenrechtsaktivistin am Zentrum für Sozialforschung. «Es gibt so viele Fälle, einer grausamer als der andere. Die Menschen verlieren die Geduld, insbesondere, wenn den Opfern keine Gerechtigkeit widerfährt.»
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