Ernst A. Heiniger in der Fotostiftung WinterthurWalt Disney sprach ihn an, und plötzlich stand sein Leben kopf
Ernst Albrecht Heiniger war ein Meister an der Kamera. Er holte sogar zwei Oscars! Lang vergessen, bekommt der 1993 verstorbene Schweizer nun seine allererste Retrospektive.

Der Tag, der alles veränderte, fiel in den Sommer 1952. Da trafen im Luzerner Hotel Palace zwei aufeinander, die bald schon ein Stück Filmgeschichte schreiben würden: Walt Disney – und der Thurgauer Fotograf Ernst A. Heiniger.
Doch zurück an den Anfang dieser Geschichte. Die beginnt rund 20 Jahre früher in Zürich, wo besagter Heiniger, blutjung und gerade den Lehrabschluss als Positiv-Retuscheur in der Tasche, an der Kunsti die Wanderausstellung «Film und Foto» entdeckt – und hin und weg ist von all den modernen Bildideen, die er da sieht. Krasse Auf- und Untersichten, Mehrfachbelichtungen, gestochen scharfe Details... «Neues Sehen» heisst das damals, was Heiniger natürlich (noch) nicht weiss; er weiss nur: Das muss ich auch ausprobieren!

Und weiss Gott, er hat Talent. Schon kurz nachdem er erstmals mit der Fotokamera herumgepröbelt hat, ist er Mitglied beim Schweizerischen Werkbund (SWB), wo sich die ganze Avantgarde tummelt, und eröffnet an der St.-Anna-Gasse in Zürich ein Atelier für Fotografie und Grafik, wo auch mal ein Richard Paul Lohse für ein Plakatprojekt anklopft. Heiniger, immer auf der Suche nach etwas, das weder er noch sonst einer je gemacht hat, reist nach Ungarn, fotografiert dort wild lebende Pferde und bringt die Bilder als Fotoband heraus. Damals etwas völlig Neues – und ein Grosserfolg.

Dann kommt der Krieg, die Grenzen machen dicht, und Heiniger baut an der geistigen Landesverteidigung mit, indem er seine Landsleute mit dem Fotobuch «Viertausender» einem Alpinisten beim Erklimmen eines Gipfels über die Schulter blicken lässt. Danach versucht er sich erstmals am Bewegtbild: Für die PTT, die das Volk auf den Geschmack des Telefonierens bringen will, dreht er die Kurzdoku «Sül Bernina» (1949), die zeigt, wie in schweisstreibender Arbeit auf dem Berninapass Telefonkabel gezogen werden.
Unterwegs für Walt Disney
1952 gönnt sich die kleine Schweiz die Ausrichtung der Weltausstellung für Fotografie in Luzern – und es kommt zu eben jener schicksalhaften Begegnung zwischen Heiniger und Disney. Letzterer hat unlängst begonnen, dem Kinopublikum vor jedem seiner Trickfilme als Zückerli noch einen kurzen Dokumentarfilm zu zeigen, der die Leute für 30 Minuten in ein weit entferntes Land mitnimmt. Als Nächstes ist Switzerland an der Reihe, Disney braucht einen Kameramann – und findet in Heiniger genau jenen agilen Typus, der ihm vorschwebt.
Der ist Feuer und Flamme, zumal mithilfe der brandneuen Cinemascope-Technik gedreht werden soll, also in ausgeprägtem Breitformat und in Farbe. Und auch ein bisschen, weil er mit einer Dame namens Jean Feaster zusammenarbeiten kann. Noch bevor der Film fertig ist, hat er sie zu Mrs Heiniger gemacht. «A match made in heaven», wie die Amis so schön sagen, und so schickt Disney die beiden für die nächsten paar Filme gleich als Duo auf Reisen: erst nach Japan, dann in den Grand Canyon.
Für den allerersten 360-Grad-Film der Schweiz befestigte Heiniger einen Strauss aus neun Kameras an Helikoptern, Extrazügen und seinem Chevrolet.
Die Making-of-Bilder, die nun in der Fotostiftung Schweiz zu sehen sind, zeigen Ernst und Jean oft gemeinsam lachend; es macht richtig gute Laune, den beiden beim Teamwork zuzuschauen. Aber auch was für Disney entsteht, kann sich sehen lassen: Gleich zwei der Filme, welche die Heinigers damals drehen, gewinnen 1959 einen Oscar, einmal als bester Live-Action-Film («Ama Girls», 1958), einmal als bester Dokumentarkurzfilm («Grand Canyon», 1958).

Kann man einen Doppel-Oscar noch toppen? Schwierig. Also wendet sich Heiniger einmal mehr etwas Neuem zu – und dreht den allerersten 360-Grad-Film der Schweiz. Im Auftrag der SBB entsteht «Rund um Rad und Schiene», für den Heiniger einen Strauss aus neun Kameras an Extrazügen, Seilbahnen, Helikoptern und seinem Chevrolet montiert und der an der Expo 64 in Lausanne rund vier Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer findet.
Trotzdem ist er mit dem Resultat nicht vollends glücklich. Es stört ihn, dass sein Wurf nicht nahtlos projiziert werden kann. Logisch macht er sich als Nächstes daran, sein eigenes – nahtloses! – 360-Grad-«Swissorama» zu entwickeln. 20 Jahre knobelt er daran herum. 1984 ist es endlich so weit. Im Verkehrshaus Luzern wird ein eigens erbauter, runder Kinosaal eröffnet, in dem Heinigers «Impressionen der Schweiz» in Dauerschleife läuft (bis 2002).

Und Heiniger selbst? Hat damit in der Heimat alles erreicht, was möglich war, und bricht hier seine Zelte ab. Für immer. Zusammen mit seiner Jean baut er sich eine Villa in den Hollywood Hills, wo er 1993, kurz vor seinem 84. Geburtstag, stirbt. Die folgenden Jahrzehnte sind in Sachen Technik derart temporeich unterwegs, dass die Erinnerung an den Filmpionier von einst mit jedem neuen Gadget ein Stück mehr verblasst.
Erst vor fünf Jahren, nach Jeans Tod, hat die Fotostiftung Schweiz Heinigers Nachlass in die Schweiz zurückgeholt und damit begonnen, Fotos, Bildbände, Plakate, Filme und Dokumente systematisch zu digitalisieren. Nun fällt seine erste umfassende Retrospektive mit einem Zeitpunkt zusammen, in dem wir uns via Smartphone eifrig Retrobildli zuschicken. Der perfekte Zeitpunkt für ein Comeback.
Ausstellung Ernst A. Heiniger: Good Morning, World!
5. Juni bis 10. Oktober 2021Fotostiftung Schweiz, Winterthur
Paulina Szczesniak ist Redaktorin beim «Tages-Anzeiger» und bei der «SonntagsZeitung». Die studierte Kunsthistorikerin und Anglistin schreibt hauptsächlich über Kunst und Gesellschaftsthemen.
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