Wanst der Nation
Warum wird bei Friedrich Dürrenmatt ständig gefressen? Dazu gibts nun eine grossartige Ausstellung. Eine Kritik in fünf Gängen.

Gruss aus der Küche: Walliser Blindschleiche
«Wie brünstig war ich nach Froschschenkeln, Walliser Blindschleichen und Burgunderschnecken mit leichtgekochten Schwalbeneiern…»
So ein Auszug aus der sogenannten Fress-Arie, die Friedrich Dürrenmatt einen dekadenten Geistlichen in seinem Drama «Es steht geschrieben» singen lässt. Ähnliche Orgien des Kauens und Schluckens, des Schmatzens und Glucksens finden sich in fast allen Büchern Dürrenmatts.
Die neue Ausstellung im Centre Dürrenmatt in Neuenburg widmet sich diesen Ausschweifungen. Das Team um Direktorin Madeleine Betschart hat das Glück, dass Dürrenmatt ebenfalls malte, zur Auflockerung gibts daher auch diesmal diverse drollige Skizzen zu sehen. So zeichnete der Berner die Wirkung von Fendant – eine Guillotine, daneben ein abgetrennter Kopf. Auch für die Ohren hat das Centre was zu bieten, etwa besagte Fress-Arie, von Dürrenmatt selbst vorgetragen. «Friedrich Dürrenmatt – Das grosse Festmahl» ist eine lohnende Ausstellung, komplementiert mit einem geistreichen Begleitbändchen. Aber was soll nun eigentlich das ganze Gefresse und Gesaufe?
Erster Gang: Suppe mit Kopf
Mahlzeit! Es ist angerichtet, und man darf sich auf einen Moment der Entspannung und Harmonie freuen, bevor die nächste Aktion ansteht. Bei Dürrenmatt jedoch passiert während des Essens Entscheidendes, Dramatisches, Schreckliches. So geben sich die Protagonisten in «Die Physiker» just beim Abendessen als sehr wohl zurechnungsfähige Genies zu erkennen.
Andernorts zeitigen die Mahlzeiten nicht gewöhnliche Freuden, sondern nehmen eine schlimme Wendung. Im Theaterstück «König Johann» kommen die Kriegsparteien zwar zum gemeinsamen Tafeln zusammen, und ihre Regenten fressen sich voll. Doch am Schluss stellen sie fest, dass ihre Meinungsverschiedenheit kein Mü kleiner geworden ist – der gekappte Kopf eines Herzogs landet gar in der Suppenschüssel – und der Krieg bloss «aufgepäppelt» wurde.
Zweiter Gang: Ein Stück Wurst, komisch schmeckend
Die Ausstellung macht auf eine kurze, frühe, weitgehend unbekannte Erzählung aufmerksam: «Die Wurst» aus dem Jahr 1943. Dürrenmatts Talent für die Groteske ist da schon erkennbar – nicht aber der Humor, der die Groteske erst erträglich macht. «Die Wurst» ist deshalb ein nur grausames, nihilistisches Stück: Ein Mann ermordet seine Frau und verarbeitet sie zu Wurst. Diese frühe Prosa zeigt, wie unsicher und unselbstständig der junge Dürrenmatt schrieb. Der Stil ist ein expressionistisches Gestammel: «Vor ihm die Wurst. Sie liegt auf einem Teller. Über dem höchsten Richter thront die Gerechtigkeit.»
Dürrenmatt las diese Geschichte als junger Mann übrigens Lotti vor, seiner späteren Gattin – mit dem Effekt, dass Lotti angeekelt weitere Rendez-vous verweigerte. Die Ehe kam dann mit Verspätung zustande. Kannibalismus ist ein wiederkehrendes Thema in Dürrenmatts Bildern und Büchern und neben «Gerechtigkeit» und «Religion» das dritte Leitmotiv der Neuenburger Ausstellung.
Dritter Gang: Filetierter Amtsschimmel
Was ist Gerechtigkeit, und was hat das Recht mit ihr zu tun? Diese Fragen tauchen in Dürrenmatts Werk regelmässig auf. Dabei portioniert der Berner kalte Prozesse gern in bekömmliche Häppchen, ummantelt Juristerei mit üppigem Gefresse. Etwa in «Die Panne»: Der Protagonist, der Handelsreisende Alfredo Traps, wird überwältigt von einem unwahrscheinlichen Festessen in einem abseitigen Dörfchen. Ein alter Wein nach dem andern wird entkorkt, dazu ein erlesenes Menü. Viel zu spät merkt der beschwipste Traps – und merken mit ihm wohl viele Leser –, dass die Beweisaufnahme längst begonnen hat.

Vierter Gang: Protestantischer Sonntagsbraten
«Auf diesem Berg wird der Herr der Heerscharen allen Völkern ein fettes Mahl zubereiten, ein Mahl mit alten Weinen, mit fettem Mark, mit alten, geläuterten Weinen», so stehts schwelgerisch in der Bibel, Jesaja 25,6. Auch in der Heiligen Schrift wird tüchtig geschlemmt. Etwa im Buch Genesis, in dem Abraham drei Männer zu sich einlädt auf «einen Bissen Brot» – und dann stattdessen ein fettes Mahl mit allen Finessen auftischt. Und da ist schliesslich die berühmteste aller Tafelrunden, das Letzte Abendmahl. Friedrich Dürrenmatt, der Sohn eines Pfarrers, kannte sich bestens aus mit diesen Geschichten. Theologieprofessor Pierre Bühler zeigt im Textbuch zur Ausstellung, wie erstaunlich nahe sich biblische und dürrenmattsche Schwelgereien sind.
Dass Dürrenmatt bei aller Liebe zum lukullischen Barock auch die politische Dimension des Essens nicht übersah, zeigen Stücke wie «Das Unternehmen der Wega» oder «Porträt eines Planeten», in der sich hungernde Aussenseiter und wohlgenährte Systemprofiteure gegenüberstehen.
Als Familienmensch hatte Dürrenmatt offenbar einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn: Er habe darauf geachtet, dass jeder Gast exakt gleich viel Wein ins Glas bekommen habe, und sei zum Massnehmen sogar in die Knie gegangen, erinnert sich eine Bekannte in der Ausstellung.
Fünfter Gang: Caramelköpfli, aber ohne Zucker
Bei Dürrenmatt wurde im 25. Lebensjahr Diabetes festgestellt. Er musste streng Masshalten, Süsses lag kaum drin. Jeder Exzess wollte geplant sein – oder er wurde teuer bezahlt. Die Krankheit zwang Dürrenmatt oft zu Arbeitspausen. Zugleich hatte in seiner Familie ein pathologisches Verhältnis zum Essen geherrscht, Dürrenmatts Vater dämonisierte den Alkohol, und vor fester Nahrung fürchtet der Pfarrer sich absurderweise wegen der Gärung im Bauch. Dürrenmatts Schwelgen in üppigen Fressalien war also gleich eine doppelte literarische Überwindung: die Überwindung des asketischen Vaters einerseits und des eigenen, schwachen Körpers andererseits.
Wie und weshalb sich Dürrenmatt selber als unersättlicher Fresser inszenierte – darüber hätte man in der Ausstellung gerne mehr erfahren. Sein guter Freund und Maler Varlin etwa zeichnete Dürrenmatt deutlich dicker, als er in der Realität war. Und fürs Fernsehen hockte sich der Schriftsteller in seinem Neuenburger Lieblingsrestaurant vor eine überladene Berner Platte und fragte mit gespielter Gleichgültigkeit: «Esch das aues?»
Zudem schuf sich Dürrenmatt einen Privatmythos des Fressens: An seinem 24. Geburtstag überass sich Dürrenmatt und erbrach Fondue und Spiegeleier, Weisswein und Schnaps. Es war der Januar 1945, Weltkrieg in den letzten Zügen. Seine Kotzerei sei ihm umso lächerlicher erschienen angesichts des «ungeheuren Sich-Übergebens, das die Menschheit ausserhalb dieses Landes befallen hatte», schreibt Dürrenmatt später in seinen autobiografisch gefärbten «Stoffen».
Von diesem Moment an sei ihm klar gewesen, dass er die ferne, nicht erlebbare Welt als Schweizer Schriftsteller «erdenken» müsse. Die grosse Entleerung als Voraussetzung also fürs Bewältigen der grossen, schweren Stoffe, die Friedrich Dürrenmatt in den kommenden Jahren literarisch noch vertilgen sollte.
«Friedrich Dürrenmatt – Das grosse Festmahl», Centre Dürrenmatt, bis 22.3.2020. Am 17.11. Spezialführung mit Berner Platte und Wein.
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