Warum der saudische Kronprinz den Schleier lüftet
Muhammad bin Salman will es den Frauen seines Landes selbst überlassen, ob sie sich verhüllen. Die Reform ist Teil eines Plans.
Saudi-Arabiens Kronprinz Muhammad bin Salman ist sich der Wahrnehmung seines Landes im Westen durchaus bewusst – und er weiss damit umzugehen. Er hat es wieder gezeigt in einem Interview, das er dem US-Fernsehsender CBS vor seinem auf zweieinhalb Wochen angelegten Amerika-Besuch gegeben hat, der am Dienstag mit einem Treffen mit Präsident Donald Trump offiziell beginnt. Und so sagte er einiges zur Rolle der Frau, das für saudische Verhältnisse revolutionär klingt.
Frauen müssten nicht unbedingt eine schwarze Abaya tragen, den bodenlangen Umhang, der die Körperformen verhüllt, oder den in Saudiarabien weit verbreiteten Niqab, den Gesichtsschleier. «Die Gesetze sind sehr klar und in der Scharia festgelegt», sagte er mit Blick auf das im Königreich geltende islamische Recht. «Frauen sollen dezente, respektvolle Kleidung tragen, wie Männer» führte der 32-Jährige aus. «Das schreibt aber nicht speziell eine schwarze Abaya oder eine Kopfbedeckung vor.» Es bleibe «allein der Frau überlassen, zu entscheiden welche Art von zurückhaltender und respektvoller Kleidung sie wählt».
Betont die Gleichheit von Frauen und Männern: Saudi-Arabiens Kronprinz Muhammad bin Salman im Interview mit dem US-Sender CBS News. Video: CBS News
Es wäre allerdings ein Missverständnis, würde man den Kronprinzen so interpretieren, dass muslimische Frauen in Saudiarabien künftig kein Kopftuch mehr tragen müssten – wie es gerade in Iran Frauen fordern. Dort gilt ein gesetzlicher Kopftuch-Zwang für alle Frauen, unabhängig von deren Religion.
Soll es die Gleichstellung geben? «Absolut»
Lange war es in dem konservativen Königreich die Sittenpolizei und auch die Justiz, die eine strikte Kleiderordnung durchsetzten, obwohl es dafür keine geschriebenen Regeln gibt, abgesehen von den entsprechenden Passagen im Koran und den Hadithen, der Überlieferung des Propheten.
Allerdings begannen Frauen in der kosmopolitischeren Hafenstadt Jeddah am Roten Meer schon vor mehr als zehn Jahren, farbige Abayas zu tragen. 2014 waren die saudischen Medien voll mit Geschichten über diesen Modetrend, vor allem unter jüngeren Frauen. Dominierten anfangs noch dezente Pastelltöne, gibt es inzwischen farbige Drucke, Strass-Steine, aufwändige Stickereien.
Im Westen wenig bekannt ist überdies, dass der Niqab und andere Kleidungsvorschriften historisch ein Produkt der beduinischen Lebensweise sind, nicht des islamischen Rechts. Gesichtsschleier und Handschuhe sind etwa auf der muslimischen Pilgerfahrt nach Mekka, dem Haddsch, verboten.
Kürzlich hatte bereits ein hochrangiger Religionsgelehrter, Scheich Abdullah al-Mutlaq, gesagt, mehr als 90 Prozent der frommen muslimischen Frauen auf der Welt trügen keine Abaya. «Also sollten wir sie nicht zwingen, Abayas zu tragen.» Der Mann ist immerhin Mitglied im Rat der Höchsten Religionsgelehrten, dem wichtigsten derartigen Gremium im Königreich. Das blieb nicht ohne Protest konservativer Kreise und Kleriker, aber bietet dem Kronprinzen eine juristische Flankierung für seine Äusserungen.
Tatsächlich ging Muhammad bin Salman, oft nur bei seinen Initialen MbS genannt, noch einen deutlichen Schritt weiter. Auf die Frage, ob Frauen den Männer gleichstehen würden, antwortete er: «Absolut. Wir sind alle menschliche Wesen, und es gibt keinen Unterschied.»
Für liberale Töne gibt es wirtschaftliche Gründe
Da ist das Königreich allerdings noch nicht angekommen, obschon Frauen von Mitte des Jahres an auch Führerscheine ausgestellt werden sollen und sie damit Autofahren dürfen. Das System der männlichen Vormundschaft ist zwar eingeschränkt, aber bislang nicht abgeschafft worden. Nach diesen Regeln brauchen Frauen für viele Entscheidungen die Zustimmung eines männlichen Verwandten, in der Regel der Mann oder Vater, manchmal aber auch des volljährigen Sohns oder entfernterer Verwandter.
Der Thronfolger setzt sich aber tatsächlich für Verbesserungen der Frauenrechte ein, aus verschiedenen Motiven. Zum einen hängt der Erfolg seiner ambitionierten Wirtschaftsreformen nicht zuletzt davon ab, ob es gelingt, den Anteil der Frauen in der Arbeitswelt zu steigern. Saudiarabien belegt derzeit im Gleichberechtigungsranking des Weltwirtschaftsforums Rang 140 von 144 Plätzen.
Erklärtes Ziel ist es, den Frauenanteil in der arbeitenden Bevölkerung von derzeit 22 auf 30 Prozent anzuheben. Als Signal in diese Richtung gilt die Ernennung von Tamadur bint Youssef al-Ramah zur stellvertretenden Ministerin für Arbeit und Soziales. Sogar die Armee hat jüngst Stellen für Frauen ausgeschrieben.
Überdies will Muhammad bin Salman die Gesellschaft öffnen, modernisieren und aus dem Griff der konservativen Kleriker befreien. Er hat früher schon angekündigt, sein Land zu einem moderaten Islam führen zu wollen. Nun bekräftigte er, dass er die weitgehende Macht der Ultrakonservativen nach der Geiselnahme in der Grossen Moschee von Mekka im Jahr1979 als fehlgeleitet betrachtet und sie beschneiden will: «Wir waren Opfer, besonders meine Generation», sagte er. Inzwischen gibt es im Königreich wieder Konzerte – Tanzen und Schunkeln verboten – und Kinovorführungen, eine eigene Unterhaltungsbehörde soll die Industrie entwickeln. Der Kronprinz wird in den USA deswegen auch Vertreter der Filmindustrie treffen.
Keine Rundumversorgung mehr
Die Unterhaltungsindustrie wiederum soll zum einen dazu beitragen, die Wirtschaft unabhängiger vom Öl zu machen. Bisher fliessen zweistellige Milliardenbeträge jedes Jahr nach Bahrain, in die Emirate und in andere Länder ab, in denen die Regeln weniger strikt sind und sich viele Saudis jedes Wochenende vergnügen. Überdies soll dadurch die junge Bevölkerung bei der Stange gehalten werden; zwei Drittel der Saudis sind unter dreissig. Ihnen aber wird der Staat nicht mehr wie der Generation ihrer Eltern eine Rundumversorgung von der Wiege bis zum Grab bieten können. Der Gesellschaftsvertrag in der absoluten Monarchie steht damit infrage.
Die Reformen sind so betrachtet nicht Selbstzweck, sondern angesichts dauerhaft niedrigerer Ölpreise eine unumgängliche Überlebensstrategie, um die Monarchie zu bewahren. Eine politische Öffnung oder eine tiefgreifende Demokratisierung geht damit bislang nicht einher – eher im Gegenteil.
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