
Wenn andere Länder mit Deutschland streiten, muss man meist nicht lange warten, bis einer das N-Wort benutzt. Berlin arbeite mit den alten Nazi-Methoden, schimpfte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag. Deutschland missachte die Meinungsfreiheit, indem es türkischen Ministern verwehre, in Deutschland für seine Verfassungsänderung zu werben. Er selbst, schob er der Beleidigung eine Anmassung hinterher, werde in Deutschland auftreten, wann immer es ihm beliebe.
Erdogans Provokation löste beim Adressaten die gewünschte Empörung aus: Von einem Herrscher, der selbst Menschen- und Freiheitsrechte mit Füssen trete, Journalisten einkerkere und daran arbeite, die Türkei in einen autoritären Staat umzubauen, lasse man sich keine Lektionen erteilen, empörten sich deutsche Politiker. Der Nazi-Vorwurf sei eine bodenlose Frechheit – und umso unerträglicher die Vorstellung, Erdogan erhalte in Deutschland eine Bühne, um seine Allmachtsfantasien auszuleben.
Auf Gastgeber angewiesen
Zunächst ist festzuhalten, dass ausländische Politiker keinen rechtlichen Anspruch auf Wahlkampfauftritte in Deutschland haben. Erdogan hat seit 2008 bereits dreimal in Deutschland öffentlich geredet, aber er war dafür stets auf die Grosszügigkeit seiner Gastgeber angewiesen. Es gab und gibt Gründe, warum Deutschland bislang die Meinungsfreiheit auch ausländischen Politikern freigebig einräumte. Eineinhalb Millionen Menschen im Land sind türkische Staatsbürger, was Deutschland zum viertgrössten türkischen Wahlbezirk macht.
Zudem ist das deutsche Versammlungsrecht grundsätzlich sehr liberal. Wenn man in der Vergangenheit Politiker wie den reaktionären ungarischen Präsidenten Viktor Orban oder die islam- und europafeindlichen Geert Wilders oder Heinz-Christian Strache zu Anhängern hat reden lassen, warum dann nicht den mehrfachen türkischen Wahlsieger Erdogan?
Die deutsche Regierung von Angela Merkel möchte ein generelles Einreise- oder Redeverbot vermeiden, aber gleichzeitig sicherstellen, dass Erdogan oder türkische Regierungsmitglieder das Gastrecht nicht missbrauchen, um Deutsch-Türken gegen Erdogan-Kritiker und den deutschen Staat aufzustacheln. Je mehr die Empörung in Deutschland aufwallt, umso schwerer lässt sich diese Politik durchhalten. In Umfragen sagen bereits vier von fünf Deutschen, Merkel müsse Erdogan entschiedener entgegentreten.
Merkels Zurückhaltung hat einen Grund – und entgegen der gern verbreiteten Legende ist es nicht die Sorge um das Flüchtlingsabkommen: Sie möchte schlicht nicht in Erdogans Falle treten. Gibt sie der Empörung nach und verbietet seinen Auftritt, erfüllt sie ihm den innigsten Wunsch. Der Abstimmungskampf um den Umbau der Türkei in ein autoritäres Präsidialsystem gestaltet sich viel zäher, als Erdogan gedacht hatte. Die Repression nach dem Putschversuch hat die Türkei in eine Wirtschaftskrise gestürzt. Erdogans Erfolg an den Urnen ist keineswegs sicher. In dieser Lage braucht er einen Eklat und ein ausländisches Feindbild, um eine patriotische Mehrheit hinter sich zu scharen. Gegen ein deutsches Einreiseverbot wenden sich auch türkische Oppositionelle, die mit Erdogan ansonsten nichts verbindet.
Man muss im Geschäft bleiben
Merkel weiss, dass ein Auftrittsverbot Erdogan nützt – ein Auftritt aber ihr im beginnenden Bundestagswahlkampf schaden würde. Würde die Kanzlerin nur taktisch denken, wäre der Fall klar. Ihre Zurückhaltung ist aber strategischer Natur. Die EU kann nicht mehr verhindern, dass die Türkei sich immer stärker von ihr abwendet und in China und Russland neue, ähnlich autoritäre Verbündete sucht.
Am strategisch entscheidenden Übergang zum Nahen und Mittleren Osten wird die Türkei für Europa aber ein Nachbar bleiben, mit dem es zwingend «im Geschäft» bleiben muss: Es geht um Geopolitik, um Wirtschaftsbeziehungen, um Flüchtlinge, um Sicherheit – und nicht zuletzt auch um die Integration von drei Millionen Türken in Deutschland. Auf der anderen Seite setzt die Kanzlerin auch darauf, dass Erdogan auf die Milliarden aus Europa schwerlich verzichten kann.
Aus Merkels Sicht gibt es also keinen Grund, Brücken vorsätzlich abzureissen, solange sich auf ihnen die Distanz zwischen den beiden Ländern noch halbwegs überwinden lässt. Gleichzeitig kann sich ein Staat auf Dauer auch nicht jede Brüskierung gefallen lassen, und sei sie noch so kalkuliert. Der Umgang mit dem Möchtegern-Sultan vom Bosporus wird so für Deutschland auch eine Übung in Selbstdisziplin und Selbstachtung – und eine Frage der Souveränität.
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Warum Erdogan provoziert
Dem türkischen Präsidenten würde ein Einreiseverbot für Deutschland mehr nützen als jeder Auftritt.