Was den Schweizer Nobelpreisträger in Stockholm erwartet
Der Physiker Jacques Dubochet wird heute eine Feier erleben, die in der Welt der Wissenschaften einzigartig ist.
Fanfaren werden heute Nachmittag für den Schweizer Nobelpreisträger Jacques Dubochet erklingen, sobald er die Urkunde und das Kästchen mit der Goldmedaille aus der Hand Seiner Majestät, dem König entgegengenommen hat. Dubochet wird sich tief vor Carl Gustaf verbeugen, sich um 90 Grad zu den Vertretern des Nobelkomitees wenden und verbeugen und zuletzt – 180 Grad zurück – auch vor dem Publikum. Die 1500 festlich gekleideten Zuschauer werden sich ihm und den weiteren zehn Nobelpreisträgern zu Ehren erheben und im Konserthuset, dem Stockholmer Konzerthaus, stehend applaudieren.
Die Laureaten haben am Vormittag den Ablauf in Zivilkleidung geübt: die wenigen Schritte auf dem blauen Teppich bis zum weiss umkreisten N, das an das H auf einem Helikopterlandeplatz erinnert – und dann die drei Verbeugungen. Jede Geste muss sitzen. Die Zeremonie der Nobelpreisverleihung ist ein altehrwürdiges Ritual, das seit 1901 – ausser in den Kriegsjahren – jeweils am 10. Dezember, dem Todestag von Alfred Nobel, in Stockholm stattfindet (der Anlass wird live auf Youtube übertragen). Durch die Schirmherrschaft des schwedischen Königshauses bekommen die Auszeichnungen einen Glamour, wie er ansonsten im Wissenschaftsbetrieb selten vorkommt.
Das beginnt schon bei der Kleiderwahl. Forscher, die oft zeit ihres Lebens in weissen Laborkitteln zugebracht haben, tragen nun Schwarz. Ein Anzug genügt aber nicht. Vorschrift für die Preisträger – wie für alle anderen männlichen Besucher – ist ein Frack mit weisser Weste, weisser Fliege und schwarz glänzende Lacklederschuhe. Beim königlichen Hoflieferanten Steens oder anderen Verleihern können die Herren ihre Festkleidung mieten. Die Laureaten bekommen Massanfertigungen, die sie hinterher kaufen können, wenn sie möchten.
«Der perfekte Anlass, königlich auszusehen»
Frauen unterliegen weniger Zwängen. Ein Abendkleid genügt. «Dies ist der perfekte Anlass, sich hübsch zu machen und königlich auszusehen», informiert die Nobelpreisstiftung über den Dresscode für Damen. Dabei wird wohl kaum eine normalsterbliche Teilnehmerin mit dem anwesenden Adel mithalten können. Königin Silvia trug im letzten Jahr ein silbernes Kleid mit Schleppe des Designers Gunyuki Torimaru. Die Pailletten flimmerten um die Wette mit den Saphiren in Tiara, Ohrringen und Halskette. Das Armband stammte aus den Kronjuwelen.

Der erste König, der mit dem Nobelpreis betraut wurde, Oskar II., war indes nicht begeistert, ebenso wenig wie die Schwedische Akademie der Wissenschaften und das Karolinska-Institut, die im Testament von Alfred Nobel dazu bestimmt worden waren, sich an der Preisverleihung zu beteiligen. Nobel war als einer der reichsten Männer Europas 1896 gestorben – ohne eigene Nachkommen. Sein Vermögen hatte er unter anderem mit seiner ersten Entdeckung, dem Dynamit, gemacht, das er 1868 patentierte. Nur wenige Jahre später wurde es beim Bau des Gotthard-Eisenbahntunnels eingesetzt. Deshalb hatte Nobel eine seiner später 90 Fabriken in der Schweiz errichtet, in der Nähe von Flüelen.
Ein Jahr vor seinem Tod veranlasste der damals 62-Jährige, dass sein finanzieller Nachlass in einen Fonds fliessen sollte, dessen jährliche Zinsen als fünf Preise verteilt werden sollten, in den Disziplinen Medizin, Physik und Chemie. Dazu kamen ein Preis für Literatur sowie ein Friedenspreis, den ein Gremium des norwegischen Parlaments verleihen sollte. Schweden und Norwegen waren zu Nobels Lebzeiten in einer Union miteinander verbunden. König Oskar II. war speziell gegen den Friedenspreis, der seiner Meinung nach nur Komplikationen mit sich ziehen würde. Womit er nicht unrecht hatte, führten doch einige der späteren Auszeichnungen wie zum Beispiel jene an Barack Obama 2009 oder Yassir Arafat 1993 zu heftigen Kontroversen. Auch dieses Jahr gibt es Proteste: Grossbritannien, Frankreich und die USA werden die Verleihung des Friedensnobelpreises an die NGO Ican boykottieren.
Das Privileg, als letzter und wichtigster Gast zu erscheinen, hat normalerweise der König.
Bei der ersten Nobelpreisverleihung liess Oskar II. sich noch vertreten. Doch seitdem gehört die Zeremonie zu einem der wichtigsten Anlässe im Terminkalender des schwedischen Königs. So oft wie keiner vor ihm überreicht Carl Gustaf seit über 30 Jahren die begehrten Auszeichnungen.
Trotz der anwesenden Hochgeborenen stehen an diesem Tag die «bürgerlichen» Nobelpreisträger im Mittelpunkt. Das zeigt bereits die Zeremonie im Konzerthaus, denn die Mitglieder der Königsfamilie nehmen auf der Bühne Platz – natürlich mit Fanfare und stehendem Publikum –, bevor die Nobelpreisträger zur Musik von Mozart einmarschieren. Das Privileg, als letzter und wichtigster Gast zu erscheinen, hat normalerweise der König.
Der wichtigste, nicht der höchstdotierteste Preis
Ungewöhnlich für die Vorweihnachtszeit duftet es im Konzerthaus nach frischen Blumen. Rosarot war das Motto letztes Jahr, und so verströmten 22'000 Rosenund Amaryllisblüten einen Hauch von Frühling. Ein Sonderflugzeug hat traditionsgemäss die Pracht aus San Remo eingeflogen, dem letzten Wohnort von Alfred Nobel.
Die Nobelpreise sind die renommiertesten Preise, die Forscher oder Autoren gewinnen können. Kein Wunder, dass sie nachgeahmt wurden – zum Beispiel von der Internationalen Stiftung Preis Balzan mit Sitz in Zürich und Mailand. Andere Wissenschaftspreise wie die Breakthrough-Preise, die 22 Millionen Dollar ausschütten, übersteigen die Summe auf den Nobelpreis-Checks um ein Mehrfaches. Dennoch bleibt der Nobelpreis der bekannteste und wichtigste. So verfolgen im Oktober jeweils 13 Millionen Menschen auf der ganzen Welt über mehrere Tage die digitalen Übertragungen der Nobelpreisstiftung, wer in diesem Jahr ausgezeichnet wird.
Eine ganze Woche vor der Verleihung volles Programm
Auch die Hofierung der Preisträger und der Pomp bei den Feierlichkeiten sind einmalig. Wenn die Laureaten heute den Preis erhalten, so haben sie bereits eine Woche mit zahlreichen Veranstaltungen hinter sich. «Das war auch anstrengend», erinnert sich Kurt Wüthrich von der ETH Zürich, der vor 15 Jahren den Nobelpreis für Chemie erhielt.
Die Preisträger werden bereits vor dem 10. Dezember in Stockholm herumgereicht, sind auf Pressekonferenzen, Empfängen, Essen, Konzerten eingeladen und halten wissenschaftliche Vorträge am Karolinska-Institut, an der Universität Stockholm oder über Literatur bei der Schwedischen Akademie.
Dabei werden jedem Laureaten offiziell 15 Begleitpersonen zugestanden, Angehörige, Freunde, Mitarbeiter. Die Nobelpreisstiftung ist aber grosszügig, wenn das Kontingent nicht ausreicht. Ein Preisträger soll sogar einmal eine Entourage von 68 Personen mitgebracht haben.
Die meisten Gäste bezahlen für den Abend 315 Franken.
Kurt Wüthrich war insgesamt sechsmal bei einer Nobelpreisverleihung. «Im Jahr, bevor ich den Preis bekam, war ich offiziell eingeladen – zum Üben», vermutet der heute 79-Jährige.
Der absolute Höhepunkt aber folgt nach der Verleihung im Konzerthaus: das Festbankett. Die Feier beginnt um 19 Uhr in dem nur fünf Autominuten entfernten Stadshuset, dem Rathaus am Ufer des Mälarsees. Der blaue Saal ist ein überdachter Innenhof mit südländischem Charme – als sässe man auf einer italienischen Piazza. Hier ist Platz für 1300 Gäste. Die meisten von ihnen bezahlen für den Abend 315 Franken. Sie sitzen an einem der 65 Tische etwas abseits der alles dominierenden Tafel in der Mitte, wo die 90 Ehrengäste, die Preisträger mit ihren blaublütigen Tischdamen, ihre Angehörigen und Politiker speisen werden.

Erneut kündigen jubilierende Trompeten die Herrschaften an. Sie schreiten die lange Freitreppe zu den wartenden – natürlich ehrerbietig stehenden – Gästen herab. Vorweg das Königspaar jeweils mit einem Wissenschaftler oder der Gattin eines Laureaten am Arm, gefolgt von den Ausgezeichneten, von denen manch einer altersbedingt nicht mehr ganz so gut zu Fuss ist.
Das bestgehütete Geheimnis ist die Menükarte
Die Flammen der Kandelaber spiegeln sich in den goldstieligen Gläsern, und endlich verraten die Menükarten das bestgehütete Geheimnis in Stockholm: die Speiseabfolge. Der letzte Schweizer Nobelpreisträger Kurt Wüthrich bekam mit den zahlreichen Gästen 2002 ein Ziegenkäse-Tartelette mit Randen-Gelee und Jakobsmuscheln serviert; als Hauptgang Hirschfilet mit Zimtsauce und Herbstgemüse.
Und zum Dessert veranstalteten die 230 Kellner ein einzigartiges Spektakel. Statt der traditionellen Wunderkerzen-Glace-Kreation trugen sie in einer weiss livrierten Choreografie Silbertabletts die Freitreppe hinunter, die mit gasgefüllten Herzballons verziert waren. Kurz bevor sie die Birnenküchlein mit dem Champagnersorbet kredenzten, stiegen die Ballons simultan zur Decke.
Herrlich kitschig – aber nicht jedermanns Sache.
Beispielsweise schwänzte der Sänger und Literaturnobelpreisträger Bob Dylan letztes Jahr die Feierlichkeiten. Vielleicht wäre auch Alfred Nobel dem Bankett ferngeblieben. Der Industrielle war privat schweigsam, schüchtern und anspruchslos. Einladungen zu offiziellen Gesellschaften lehnte er häufig ab. Nur einmal wäre er gerne zu einer Feier gekommen: zur Einweihung des Gotthardtunnels 1882 – aber da war er nicht eingeladen.
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