Was die Generation Internet ihren Eltern voraus hat
Eine neue Jugend wächst heran - die «Digital Natives». Diese Webgeneration schickt sich an, unser Leben umzukrempeln. Was sie anders macht und wieso viele sie nicht verstehen.
Sie lesen lieber Blogs als Zeitungen, sie besuchen keine Bibliothek, dafür die Onlineenzyklopädie Wikipedia, sie holen ihre Musik illegal online, statt sie im Laden zu kaufen. Sie senden Kurznachrichten, statt das Telefon zu benutzen, und sie haben x Freunde - rein virtuell auf Websites wie Facebook oder MySpace.
Was ist los mit mit den Personen, deren Geburtsdatum frühestens in den 80er-Jahren liegt? Wie leben die Kinder der Generation X, die «Generation Internet» oder Neudeutsch die «Digital Natives»?
Zur Generation X zählt man jene, die zwischen 1960 und 1980 geboren wurden. Sie kamen in der Periode der grossen Desillusionen zur Welt: Sie erlebten den Bankrott der zwei grossen politischen Ideologien, der sich beim Fall der Berliner Mauer 1989 endgültig zeigte. Die Zeit der grossen Versprechen, die Zeit, wo Ideologien dem Menschen Halt gaben, war vorbei.
Dafür sah sich die Generation X zwei neuen Phänomenen ausgesetzt, die sie nicht minder beschäftigte und mit denen sie sich alles andere als leicht tat: Der entfesselte Massenkonsum - alles wurde irgendwie verökonomisiert, «Homo oeconomicus» ein geflügeltes Wort. Und das Aufkommen der Informatik - die Generation X flanierte noch mit dem Walkman und den analogen Musikkassetten durch die Gassen, doch die Vorboten der totalen Digitalisierung – die ersten Heimcomputer – liessen sie bereits in ihre Stuben. Beiden Phänomenen schaute die Generation X zwar skeptisch entgegen, beide Phänomene aber liessen sich nicht mehr stoppen.
Ein Handy ist mehr als ein Telefon . . .
Was für die Generation X noch schwer zu akzeptieren war, das ist für deren Kinder völlig normal: die alles durchdringende Kommerzialisierung des Lebens, die auch vor ehemals sakrosankten Räumen wie Schulen und Universitäten je länger, je weniger Halt macht. Für die Digital Natives ist diese merkantile Welt eine Tatsache. Sie sind in ihr aufgewachsen, mussten den für die Generation X schmerzhaften Übergang zu dieser für sie neuen Welt nicht mehr durchlaufen.
Was die Digital Natives interessiert, ist, wie man dieses System am besten für sich arbeiten lässt. Wie man am besten davon profitiert. Sie verstehen die Konsumgesellschaft nicht als etwas Böses, sondern fragen sich, wie sie als Konsumenten am besten ihren Einfluss geltend machen, wie man Angebote für sich nutzt und weiss, wie man sich in diesem unübersichtlichen Warenbasar bewegt.
Das Web gibt den Digital Natives neue Möglichkeiten, sich als aktive kritische Konsumenten zu betätigen – die verschiedenen Preis-, Leistungsvergleichs- und Erfahrungsberichtseiten sind nur ein Beispiel. Eine Firma, die heute schlechten Service bietet oder durch Tricksereien auffällt, verliert das Vertrauen der Digital Natives sehr schnell. Ist die kritische Information einmal im Web, kann die PR-Abteilung nur noch Schadensbegrenzung betreiben.
Neben der in jede Ritze eindringenden Ökonomisierung und dem Fehlen eines grossen elektrisierenden Gesellschaftsentwurfs formte die Digital Natives die totale Digitalisierung: Sie sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der es das Web, die Computer, die Handys bereits gab. Für sie sind das Dinge ihrer Erlebniswelt. Für ihre Eltern ist ein Handy ein Gerät, um zu telefonieren, wenn man ausser Haus ist. Punkt. Sie interessieren sich zwar für die Gadgets und was sie so alles können, aber mehr als Neugierde ist das nicht – sie sind halt nur Digitale Immigranten.
Für ihre Kinder, die Digital Natives, aber ist ein Handy ein Gerät, um mit der Familie, Freunden, Bekannten in engem Kontakt zu bleiben. Es ist ein Gerät, wo man neue Personen kennen lernt, mit ihnen flirtet, Witze weiterleitet, ein Symbol für Freiheit, Nähe, Sicherheit. Es wurde sogar zum Modeutensil. Das alles scheint vielen älteren Erwachsenen ziemlich unnötig, kindisch.
. . . das Web mehr als eine Bibliothek
Neben neuen Geräten wie MP3-Playern oder Handys gehört zur totalen Digitalisierung als zentraler Teil das Internet. Für die Eltern der Digital Natives bedeutet das Web noch immer vor allem eine grosse Bibliothek.
Für die Digital Natives aber ist es ein Ort, wo mit allem und jedem Kontakt gepflegt und aufrechterhalten wird. Der Computer, einst als kaltes Gerät angesehen, das seine Benutzer vereinsamen lässt, wurde durch die Anbindung ans virtuelle Netz der Welt zur sozialen Maschine. Eine Studie der Hanyang-Universität in Südkorea legt nahe, dass Digital Natives schon heute bis zu zwei Stunden pro Tag mit dem Computer online verbunden sind – am Gamen oder Chatten. Und die Studie «Generation M: Media in the Lives of 8-18 year-olds» zeigte, dass ein Drittel der befragten Digital Natives während des TV-Schauens gleichzeitig online sind.
Die Zeit, die sie mit traditionellen Medien (TV, Musik, Presse) verbringen, bleibt laut einer Studie der Kaiser Family Foundation gleich. Sie nutzen mehr Medien in der gleichen Zeit, statt wie ihre Eltern den Konsum ihrer althergebrachten Medien einzuschränken, um auch für die neuen Zeit zu haben. Die Digital Natives schaffen das durch Multitasking und Zappen: Sie nutzen Medien nicht in einer linearen Form, lesen eine Seite nicht ganz von oben nach unten, sondern scannen den Inhalt diagonal, picken sich etwas heraus und gehen von dort weiter – wie ein Hyperlink auf einer Website.
Das Web ist für die Digital Natives auch ein Platz des Sehens und Gesehenwerdens: Community-Seiten wie Facebook oder MySpace erfüllen Funktionen, die früher Jugendtreffs oder der öffentliche Dorfplatz der Töffligeneration innehatten. Das ist einer der Gründe, warum Digital Natives so verblüffend viele persönliche Details von sich im Web preisgeben. Wer Leute kennen lernen will, muss von sich etwas erzählen, sich ein wenig öffnen. Diese Erfahrung wird ins Web transferiert, verändert hat sich nur das Medium.
Durch MySpace und Facebook kann sich ein Digital Native zudem eine Identität geben, die völlig verschieden ist von seiner Offline-Identität und die sich jederzeit wandeln kann. Das ist ein weiterer Grund, warum Digital Natives viel eher bereit sind, persönliche Informationen einfach so ins Web zu stellen. Eine Einstellung, die für die ältere Generation, die spätestens mit der Schweizer Fichen-Affäre 1989 für Datenschutz und Privacy sensibilisiert wurde, schlicht unverständlich ist.
Durch das Internet verschwinden die traditionellen exklusiven Wissensautoritäten zunehmend, das Wahrheitsmonopol der Experten löst sich auf. Die Digital Natives erstellen und konsumieren Wissen vor allem im Web. In den Augen vieler Eltern der Digital Natives ist dies verheerend, sie haben Angst um die Informationsqualität. In ihren Augen müssen höhere Instanzen darüber wachen, dass alles korrekt ist: Der Konsumentenschutz überwacht die Produkte, die Verleger kontrollieren die Information, die Journalisten die Wahrheit, die Dozenten die Bildung. Die Generation X misstraut Information, die nicht über institutionelle Instanzen kommt, daher misstraut sie dem Internet und einer Enzyklopädie wie Wikipedia.
Sind Informationen, nur weil sie im Web publiziert wurden und durch die Möglichkeiten des Internets erst existieren, zwangsläufig von minderer Qualität als traditionell hergestellte Informationen? Die Geschichte der Onlinebibliothek Wikipedia gibt darauf eine Antwort. Als der Rohstoffhändler Jimmy Wales 2001 die Idee hatte, eine Gratisbibliothek wie Wikipedia ins Leben zu rufen, hatten ihn wohl die meisten für verrückt erklärt. Die Idee, dass die Gratisarbeit zehntausend Freiwilliger zu etwas Brauchbarem führt, schien absurd. Denn im Grunde griff Wikipedia die renommierte Encyclopaedia Britannica an, den Heiligen Gral des bezahlten Expertenwissens. Wie soll das gehen? In Wikipedia schreiben ja gerade nicht bezahlte Experten – sie kennen sich zwar in einem Gebiet sehr gut aus, sie schreiben aber als Hobby.
Heute enthält Wikipedia über 6 Millionen Artikel in über 240 Sprachen. Dazu beigetragen haben mehr als 280 000 Personen, viele davon sind Digital Natives. Wikipedia zeigt, dass wir von einer Welt von Informationskonsumenten zu einer Welt von Informationsherstellern übergehen. Wikipedia zeigt die ungeheure Kraft und Lust der Digital Natives, sich in Communities zusammenzutun, um etwas völlig Neues herzustellen. Wikipedia ist nur das prominenteste Beispiel.
Aber wie steht es nun um die Qualität des Wikipedia-Wissens? 2005 führt das Wissenschaftsmagazin «Nature» einen Vergleich zwischen der Encyclopaedia Britannica und Wikipedia durch. «Nature» fand in beiden Werken Unstimmigkeiten, und die Experten machten weniger Fehler als die Wikipedia-Amateure. Aber der Unterschied war minim. Im Schnitt hatte ein Eintrag bei Wikipedia vier Fehler, einer bei der Encyclopaedia Britannica drei. Qualität kann also von ganz verschiedenen Ecken kommen. Der Prozess, wie man Falsches von Richtigem trennt, ist im Web offenbar genauso schwierig, wie im Offlineleben. Nur das Medium ist neu.
Die Wikipedia-Gemeinschaft zeigt: Zusammen wissen wir mehr als jeder Einzelne. Mehr Köpfe generieren mehr Wissen. In seinem Buch «Die Weisheit der Vielen» legt der Soziologe und «The New Yorker»-Kolumnist James Surowiecki anhand unzähliger Beispiele dar, wie stark und mächtig kollektive Intelligenz ist. Die Digital Natives stellen das Generation-X-Verständnis «die Masse ist dumpf, dumm und gefährlich» auf den Kopf.
Die subversive Note
Die Lust der Digital Natives an der Community, am Teamwork und am Austauschen von Daten bringt nicht nur Wikipedias hervor, sondern hat auch eine subversive Note: Das Nutzen von Tauschbörsen gehört für sie zum Normalsten der Welt. Musikpiraterie – na und? Trotz enormen juristischen Anstrengungen der Musik- und Filmindustrie ist die Nutzung von Tauschbörsen in Europa und den USA nicht zurückgegangen. Statt sich zu überlegen, wie man die neue Generation ins Boot holt, reagierten die Majors vor allem mit Repression. Ein grosser Fehler, denn die Probleme haben sie vor allem den Digital Natives zu verdanken. Die Ältesten von ihnen gründen längst Firmen, welche die wirtschaftliche Landschaft völlig umkrempeln. Erst seit Shawn Fanning (28) 1999 im College-Alter die MP3-Tauschbörse Napster online stellte, ist die Musik- und Filmindustrie nicht mehr dieselbe. Steve Chen (30) und Chad Hurley (32) riefen 2005 Youtube ins Leben Google kaufte den Dienst nach nicht einmal zwei Jahren für über 1 Milliarde Dollar, und die TV-Gesellschaften müssen sich zwangsläufig mit dem Dienst auseinandersetzen. Vor Youtube war Hurley massgeblich an Paypal beteiligt, dem Onlinebezahldienst, der heute zu Ebay gehört. Mark Zuckerberg (24) und seine Kollegen gründeten Facebook, eine Webcommunity, in die Microsoft letztes Jahr 240 Millionen Dollar investierte – für zwei Prozent der Firma. Zuckerberg ist der wohl jüngste Milliardär der Geschichte und der einzige, der mit Flipflops zur Arbeit geht.
Auch im Job machen Digital Natives vieles anders als ihre Eltern: Sie ziehen zwischen Arbeit und Privatleben keine scharfe Linie, arbeiten vernetzt und nach Fähigkeiten, statt isoliert und nach zugewiesenen Funktionen. Sie wählen ihren Arbeitsplatz nach ihrer Vision, statt nach dem Status einer Firma. Und sie wollen flache Hierarchien.
Nicht nur in der Wirtschaft, auch in der Politik mischen die Digital Natives mit. Facebook-Sprecher Chris Hughes organisierte für Barack Obama im Internet die Präsidentschaftskampagne. Allein in der Vorwahl nahm Obama laut Opensecrets.org über 235 Millionen Dollar ein – ein grosser Teil übers Web. Die Spenden fliessen per Klick ganz einfach via Paypal.
Im Internet verlieren die Wissenden ihre Autorität, Intelligenz ist hier kollektiv.
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