Was ist eigentlich Architektur? Und weshalb?
Wie es dazu kommt, dass man auf 2262 Meter über Meer bei Cola und Schlorzifladen in einem Gebäude von Herzog & de Meuron sitzt und zu Erkenntnissen gelangen will.

Ich möchte mich auf eine kleine Reise begeben – körperlich und mental. Auf dem Weg zum Chäserrugg und dem von Herzog & de Meuron gebauten Gipfelrestaurant will ich der Architektur und ihren Klischees auf den Grund gehen. Es ist gedacht als kontemplatives und reflexives Experiment, durchgeführt von einem Laien: mir.
Um 8.23 Uhr starte ich. Rapperswil. Dann Wattwil. Der Vorteil eines Railroadtrips: Man kann rausschauen. Überall, wo Wohnhäuser sind, wohnt jemand. Und wo jemand wohnt, ist Architektur.
Ist Architektur sehr gut, wenn man sie kaum bemerkt? Ist gute Architektur zeitlos? Ich habe das Gefühl, vieles, an dem ich vorbeifahre, war vielleicht schon mal en vogue, sieht heute aber etwas lächerlich aus. Ist Renovation Betrug an der Architektur? Was ist eigentlich ein «Stadtbild»? Die Summe aller Teile? Gibt es auch ein «Landbild»? Ist Natur auch Architektur?
Schweizer Architekten, die mir spontan in den Sinn kommen: Herzog & de Meuron (die bekannte Suchmaschine verrät: Sie heissen Jacques und Pierre), Mario Botta (in seinem Kaltbad Rigi war ich mal), Max Frisch (der hat, hab ich mir sagen lassen, die Letzi-Badi gestaltet, sein «Homo Faber» war mir aber geläufiger), Santiago Calatrava (dank Google weiss ich nun alles über ihn).
Angekommen im Toggenburg, in Unterwasser, fahre ich mit der Standseilbahn nach Iltios. Dort angekommen, signalisiert mir der Wegweiser einen Aufstieg von über drei Stunden. Ich laufe los, ein Gipfel will verdient sein. Weiterdenken.
Das Dekonstruktivismus-Problem
Vor über zehn Jahren sollte ich ein Porträt schreiben über Zaha Hadid, die mittlerweile verstorbene Stararchitektin. Sie war damals im Gespräch, in Basel das neue Stadtcasino zu bauen. Ich sah mir in Weil am Rhein ihr Feuerwehrlokal fürs Vitra-Design-Museum und den Bau für die Landesgartenschau an. Ausladende Betonformationen. Ich versuchte, zu verstehen, was Hadid und ihre Architektur so besonders macht, genauer: den Teil davon, den man nicht sieht. So richtig helfen wollte mir dabei aber niemand. Ein Basler Architekt bemerkte am Telefon leicht genervt, er könne mir nicht erklären, was Hadid ausmache, wenn ich kein Architekturstudium absolviert hätte.
«Ein Architekt sagte genervt, er könne mir Zaha Hadid nicht erklären, wenn ich nicht Architektur studiert habe.»
Ich weiss tatsächlich kaum etwas über Architektur. Ich nehme sie nur da wahr, wo sie aussergewöhnlich oder pompös ist, ansonsten fällt sie mir nicht auf. In der Schule hatte ich gelernt, dass Spitzbogen auf Gotik hinweisen. Ausserdem hat Architektur ein eigenwilliges Vokabular: Wurf, Schwung, Raumgefüge und so weiter.
In Basel sass ich dann vor Zaha Hadid, die soeben ihr Projekt vorgestellt hatte (das schliesslich doch nicht gebaut wurde), und sprach mit ihr über Dekonstruktivismus. Respektive: Hatte Mühe, das Wort Dekonstruktivismus auszusprechen (auf Englisch). So sehr, dass ein Mitarbeiter von Hadid, nachdem er uns kurz zugehört hatte, lachend und abwinkend davontrabte.
Ja, ich hätte sicherlich mehr Ehrfurcht gehabt vor Frau Hadid, wenn ich Architektur studiert hätte. Ich könnte ihre Kunst wohl auch besser verstehen. Aber – und das ist das Schöne an der Geschichte –, es war ihr egal, sie hob nämlich im Gespräch hervor, dass ihre Architektur für alle und darum überhaupt nicht elitär sei. Meine damalige Erkenntnis: Um Architektur zu machen, sollte man wohl Architektur studiert haben. Um Architektur zu verstehen, um sie zu schätzen oder um sie zu hassen, nicht.
Wie ich so über Stock und Stein steige, merke ich: Die Natur mag so manchen Architekten inspirieren. Aber Natur inspiriert nicht wirklich dazu, über Architektur nachzudenken. Oder zumindest mich nicht. Ebenso wenig gilt das für: die Anstrengung. Aber sonst natürlich ganz toll, die Natur, selbst wenns immer nur stupide bergauf geht. Auch gut: ein Ziel zu haben.
Wie ortsabhängig ist Architektur? Anders gefragt: Wie wichtig ist der Kontext? Architekten, nehme ich an, würden sagen, sehr. Gerade hier oben. Je weniger Menschen, desto weniger Architektur, ergo desto überraschender ist sie.
Dann ist da endlich was in Sichtweite. Ich sehe Holzverstrebungen. Ist es das schon? Es wirkt so klein und unscheinbar. Nein, das ist es nicht. Oder doch? Je näher ich dem Gebilde komme, desto schöner und imposanter wird es. Doch das ist es, ich bin oben, total verschwitzt, obwohl ich teilweise gefroren habe. Ich ziehe mir etwas Trockenes über und esse meinen Proviant mit dem kurzzeitig klaren Blick auf Walenstadt, dann umhüllt mich der Nebel, und ich gehe rein in dieses Gebäude, das ein wenig so aussieht, als wollte es gleich zu Tal segeln.

53 Meter ist es lang, beim Eintreten sieht man auf den ersten Blick vor allem Holz. Boden, Tische, Stühle, Bänke, Wände. Fichte und Esche sind hier verarbeitet worden, habe ich gelesen. Ich kaufe mir eine Cola sowie einen Schlorzifladen mit Rahm und verziehe mich in eine der gemütlich wirkenden Kojen. Es ist heimelig. Wohl auch eine Aufgabe der Architektur: Heimat bieten. Gar nicht so einfach.
Wie teuer sind sieben Millionen?
Gerne hätte ich noch eine Tour rund um die Bergstation gemacht, sie von allen Seiten betrachtet. Doch im zähen Nebel sieht man kaum ein paar Meter weit, darum fahre ich mit der Seilbahn wieder ins Tal, wo die Sonne scheint. Der Schaffner hat sichtlich Mitleid mit uns Touristen und will uns mit positiven Informationen aufmuntern. Er sagt, seit 2015 das neue Gipfelrestaurant eröffnet wurde, kämen viele Architekten oder Zimmermänner, um es sich anzuschauen. Und bei Hochbetrieb könne es im grossen Raum sehr laut werden.
Ich fahre zurück. Schlechtes Gipfelwetter kann auch die beste Architektur nicht kompensieren. Das Holpern der Strasse setzt auch das Rattern im Kopf wieder in Gang: Ist es sinnvoll, Architektur als Export zu bezeichnen? Es wird ja für einen spezifischen Ort konzipiert. Und selbst wenn ein Schweizer in China baut, plant er wohl nicht allein auf dem Reissbrett in Zürich.
«Prestigeträchtig? Geht so. Publikumsmagnet? Sicher mehr als die frühere Gipfelbeiz.»
Was sind die Klischees von Architektur? Dass sie elitär, pompös, teuer und vor allem Prestige ist, aber die Massen anzieht? Was davon trifft auf den preisgekrönten Bau auf dem östlichsten aller Churfirsten zu? Eindrücklich: ja. Mit fast sieben Millionen Franken nicht ganz günstig, für ein Objekt der Basler Stararchitekten aber wohl auch nicht überrissen teuer. Hässlich? Nein! Prestigeträchtig? Geht so. Publikumsmagnet? Sicher mehr als die frühere Gipfelbeiz.
Wird eigentlich ein Klischee wahr, wenn es oft genug repetiert wird? Und: Darf ich aufgeworfene Fragen überhaupt als Erkenntnisgewinn abbuchen? Nach langer Reise, schöner Kulisse, aber miesem Wetter bilanziere ich: Architektur ist schon deshalb eine gute Sache, weil die Leute dadurch weniger draussen sind, um mir auf den Zeiger zu gehen.
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