Was ist Loyalität?
Die Antwort auf eine Leserfrage zu einer verbreiteten Forderung.

Mich ärgern Leute, die Loyalität einfordern, etwa in Freundschaften. Ich meine, sie ist wie Dankbarkeit – ein Geschenk. Und was meinen Sie?
F.M.
Lieber Herr M.
Ich glaube, man kann Loyalität gut mit «Treue» übersetzen. Jedenfalls deckt das Wort Treue mindestens die zwei wichtigsten Aspekte der Loyalität ab: einerseits die Bindung an ein engeres persönliches Verhältnis zu jemandem; andererseits die Tatsache, dass die Vernunft es gebietet, mit beidem nicht zu übertreiben. Im Falle der Treue nennt man diese Übertreibung Nibelungentreue, eine Treue, die über Leichen geht. («Meine Ehre heisst Treue» war der Wahlspruch der SS.)
Sie haben recht, dass man Geschenke nicht einfordern kann. Aber man kann sie eben doch erwarten, so wie viele Leute Jahr um Jahr von bestimmten Menschen ein Geburtstagsgeschenk erwarten und irritiert wären, wenn es ausbleibt, auch wenn sie selbstverständlich wissen, dass sie keinerlei Anspruch darauf haben. So wie die Schenkenden ihrerseits eine gewisse Dankbarkeit erwarten dürfen, auch wenn sie diese niemals einfordern würden.
Aber auch wenn Loyalität also in gewisser Hinsicht durchaus in die Kategorie der «Geschenke» fällt, ist sie offensichtlich kein Geschenk völlig aus heiterem Himmel von Leuten, mit denen man nie zuvor etwas zu tun hatte. Wenn ich jemand Fremdem zur Seite stehe, wird er das möglicherweise freundlich, aber wohl kaum loyal finden. Zwar gehört zur Loyalität nicht unbedingt Freundschaft, wohl aber gehört zur Freundschaft Loyalität.
Offensichtlich blüht die Loyalität als menschliche Tugend am schönsten im gemeinhin als langweilig empfundenen Mittelmass. Es ist gut, wenn man sich auf seine Freunde auch in schwierigen Situationen verlassen kann, und auch, wenn sie eine gewisse Verschwiegenheit gegenüber den eigenen Fehlern an den Tag legen; aber es ist nicht gut, wenn sie einem jederzeit jedwedes Alibi geben würden. Man kann auch nicht von jeder Person dasselbe Mass an Loyalität erwarten; und ich möchte auch nicht jeder Person, mit der mich etwas verbindet, denselben Grad an Loyalität gewähren. Vor allem sollte man nicht mehr Loyalität erwarten, als man selber zu gewähren bereit ist.
Loyalität ist gut; aber sie scheint nur eine Halb-Tugend zu sein: wie wünschens- und lobenswert sie ist, hängt stark vom Kontext ab. Und, wie gesagt, vom Mass: Grenzenlose Loyalität ist eine Mafia-Tugend. Jede «Right or wrong – my party»-Loyalität ist verwerflich. Eine solche Loyalität ist ein Charakterzug von Auftragskillern und Parteibuchhaltern, die Spenden in unauffälligen weissen Umschlägen entgegennehmen. Darum finde ich Wörter wie «Parteifreunde» so schauerlich: Man muss nur ein wenig an der Fassade dieses Begriffs kratzen, und schon kommen übler Opportunismus und Kumpanei zum Vorschein.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet jeden Mittwoch Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tagesanzeiger.ch.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch