Was spricht eigentlich gegen Behaglichkeit?
NZZ-Mann Christoph Plate inszeniert einen Wettstreit der Ressentiments, bevor er die Schweiz verdrossen verlässt. Eine Replik.
Vor ein paar Tagen erhielt ich von der mir unbekannten Frau Alice Keller ein E-Mail, in dem sie mich bat, unverzüglich die Fliege zu machen: «Verpiss dich, du scheissdeutscher», forderte sie mich in nicht ganz konsequenter Kleinschreibung und nahezu interpunktionslos auf, «glaubst du, wir EIDGENOSSEN sind scharf auf deinen deutschen mist, den du uns erzählen willst geh nach hause, genau wie all die andern Bockwürste auch DRECKSD.....» Auf welchen Mist sie in ihren Zeilen anspielt, vermag ich nicht zu erraten; ergänzend möchte ich anfügen: Sie irrt, was meine Nationalität angeht. Denn ich bin seit 1992 Schweizer und verfüge ausser der Schweizer Staatsangehörigkeit über keine weitere, denn die deutsche Staatsbürgerschaft habe ich mit meiner Einbürgerung verloren. Weg ist weg, und Pass ist Pass. Und Wurzeln sind was für Gänseblümchen, aber nichts für einen Menschen mit zwei Beinen. Selbst wenn ich also dorthin ginge, von wo ich vor mehr als dreissig Jahren hergekommen bin (was mir übrigens nicht im Traum einfällt, liebe Frau Keller), würde ich also nicht die Statistik deutscher Rückwanderer bereichern, sondern lediglich die Zahl der Schweizer Auswanderer um eins erhöhen.
Nach drei Jahrzehnten in Zürich bin ich also doch noch im Kreis derer angekommen, die von einem antideutschen Ressentiment berichten können, das sie am eigenen Leibe – na ja: der eigenen Mailbox – erfahren durften. Ich habe die früheren Debatten (welch edles Wort für eine Schmutzkampagne!) um die Überfremdung durch deutsche Professoren, die UNS Schweizern die teuren Wohnungen im Seefeld und neben dem verdienten Lehrstuhl auch noch den Sitzplatz in der S-Bahn wegnehmen, für so lächerlich wie ekelhaft gehalten – und daraus nie einen Hehl gemacht. Ich kenne deutsche Akademiker, denen diese Kampagne sehr zu schaffen gemacht hat, und ich hätte grosses Verständnis für jeden deutschen Professor, der mit einem fröhlichen götzschen «Dann leckt mich doch im (sic!) Arsch» sein Amt der einheimischen Konkurrenz überlässt und anderswo sein Glück macht.
Vielleicht doch eher Isländer
Weit weniger aber kann ich die Argumente des Essays «Nichts wie weg!» nachvollziehen, mit denen sich Christoph Plate in der letzten «NZZ am Sonntag» (deren Auslandsredaktor er von 2002 bis 2012 war) aus der Schweiz verabschiedet. Wobei es sich eben weniger um Argumente handelt als um reichlich abgenudelte Klischees. Als da sind: «die Behaglichkeit, die schläfrig zu machen droht», «die geistige Enge, die vielen Vorschriften, der latente Antisemitismus, die Ausländerfeindlichkeit, die völlige Abwesenheit von Selbstironie» – «Eigenschaften ..., die man sonst eigentlich den Deutschen zuschreibt». Oder nicht vielleicht doch eher den Isländern? Den Luxemburgern oder Monegassen?
Erstens weiss ich gar nicht, was die Leute immer gegen die Behaglichkeit haben. Liegen die nachts auf einem Nagelbrett, damit sie nicht schläfrig werden und intellektuell immer hübsch auf dem Quivive bleiben? Oder schlafen sie gar unter einer Brücke? Was – zweitens – den Rest betrifft, bin ich allemal auch voll dagegen. Aber um dem durch Flucht zu entgehen, müsste ich wahrscheinlich auf den Mond zügeln. Denn «vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher» (Hannah Arendt). Dort könnte ich auch in Frieden mit mir selbst ironisch sein, ich wäre (noch) der einzige Ausländer, hätte aber auch nichts gegen weitere einzuwenden – jedenfalls, solange sie mir keine Vorschriften machen. Wenn doch, haute ich ab zur Venus. (Sapienti sat!)
Die Deutschen zögen zurück nach Deutschland, weil sie sich «über die mangelnden Debatten im Land, über die nicht vorhandene Streitkultur» ärgern. Auf das Wort Streitkultur reagiere ich inzwischen so empfindlich wie auf ausgedehntes Fingernagelkratzen auf einer Schiefertafel. Was bitte soll das sein? Wenn Angela Merkel und Stefan «Haut den Raab» aufeinandertreffen? Wenn so ein Seich wie Thilo Sarrazins «Deutschland schafft sich ab» mit allem Für und Wider wochenlang ventiliert wird, als habe da einer endlich mal gesagt, was Millionen nicht zu sagen wagen, weil sie sonst in der Besserungsanstalt für politische Korrektheit landen? OH MY GOD! Ich kriege Vögel, wenn ich mir nur eine Minute Streitkultur in der «Arena» oder im «SonnTalk» angucken muss. Nora Illi diskutiert kontrovers mit Alfred Heer über den Nutzen der Genitalverstümmelung ... Der Herr erspare uns Debatten, die keine sind. In der Schweiz, in Deutschland und dem Rest der Welt.
Lesen sie nur den «SonntagsBlick»?
Wenn Christoph Plate seine «intellektuellen Freunde in der Schweiz fragte, warum denn kein Künstler, kein Denker, kein Politiker aufstehe gegen den gesellschaftlich anerkannten Zorn eines Blocher und seiner Mitstreiter, gegen deren Volksverhetzung, sagten Ernesto, Beat, Simone oder Charlotte: weil die kritischen Geister alle im Exil sind, meist in Berlin oder in Paris.» Wen Plate wohl meint mit diesen kritischen Exilgeistern in Paris oder Berlin? Was Berlin betrifft, fällt mir immerhin Frank A. Meyer ein, der in der deutschen Hauptstadt als Ringiers Chefpublizist waltet, gegen die Burka kämpft, sich dort den Mächtigen (Schröder!) und/oder führenden Intellektuellen (oder wen er dafür hält) an den Hals wirft, aber trotzdem ganz vernünftige sozialpolitische Kolumnen schreibt.
Womöglich lesen Plates Gewährsleute Ernesto, Beat, Simone und Charlotte nur den «SonntagsBlick», sonst müssten sie eigentlich mitbekommen haben, dass die Empörung über Blocher & Co. ein Dauerbrenner in der hiesigen politischen Auseinandersetzung ist. Niemand «erhebt in der Schweiz die Stimme, wenn in den deutschen Talkshows ein giftiger Hahn wie der ‹Weltwoche›-Chef Roger Köppel das Bild von der Schweiz bestimmen darf». Seit wann wird über die Besetzung deutscher Talkshows in der Schweiz entschieden? Und wird nicht Köppel gerade deshalb so gern in deutsche Talkrunden eingeladen, weil man ihn dort für den Inbegriff von «Streitkultur» hält? (Hingegen: Kein Schwein ruft MICH an, keine Sau interessiert sich in Deutschland für mich.)
Wenn Plate schliesslich die ganz grosse Geschichte ins Auge fasst, wird es ziemlich kryptisch. «Die Juden, die ins Land gelassen wurden, als die Nazis sie jagten? Das waren Ausländer.» Ähm – etwa nicht? «Der Fall der Berliner Mauer, ein Ereignis, das Europa grundlegend verändert hat? Das war die Geschichte der Deutschen.» Das ist tatsächlich so. So wie nämlich die mörderische Exekution des international verbreiteten Antisemitismus und der Versuch, Europa, Teile Afrikas und die Sowjetunion dem Dritten Reich einzuverleiben, eine deutsche Angelegenheit war. «Die Schweiz hat den Rütlischwur und die Konkordanz.» Ja, die Schweiz ist ein kleines unbedeutendes Land, und Deutschland hat das grösste und schönste Holocaustdenkmal, wohingegen das Rütli, wie Ueli Maurer einmal zutreffend formuliert hat, «nur eine Wiese mit Kuhdreck» ist.
«Die Schweiz hat in ihrer jüngeren Geschichte keine Erfahrungen mit Krieg oder Zerstörung gemacht. Das ist ein wundervolles Privileg, wenn es keine Geschichten vom gefallenen Grossvater oder vom enteigneten Landgut gibt. Die Kehrseite dieses Privilegs ist die übergrosse Bereitschaft wegzuschauen, Hetzer und Rattenfänger zu dulden ...» Privileg? Von wem verordnet oder gewährt? Dem Weltgeist? Höre ich aus den Bemerkungen auch einen gewissen Sündenstolz heraus? Ein Auftrumpfen wie beim Auto-Quartett, wenn man für einmal nicht mit der sparsamsten Karre aufwarten muss, sondern den spritfressendsten Boliden von allen spielentscheidend auf den Tisch legen kann?
Länder muss man nicht lieben
Plate fällt es «schwer, das Land zu lieben, weil seine Bewohner es selbst nicht lieben. Wenn keine Deutschen oder andere Ausländer da sind, gegen die man sticheln kann, geht es gegen den Kanton nebenan, gegen das Tal auf der anderen Seite des Berges, gegen den Nachbarn.» Schon mal was vom Affentheater um die Angst vor schwäbischer Überfremdung im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg gehört? Eine streitkulturelle Debatte, in die sich sogar der frühere Bundestagsvizepräsident Thierse mit der Bemerkung einmischte: «Ich ärgere mich, wenn ich beim Bäcker erfahre, dass es keine Schrippen gibt, sondern Wecken.» In Berlin sage man Schrippen, und «daran könnten sich selbst Schwaben gewöhnen».
Ich komme zum Schluss und damit zur Erklärung, warum mich Christoph Plates Abrechnung mit der Schweiz eigentlich so genervt hat und ich mich darüber echauffiere. Länder muss man nicht lieben. Man kann ein Faible für manche Länder oder Städte oder Gegenden haben. Ich lebe gerne in Zürich, ziehe das Meer den Bergen vor, bin des Öfteren (zu oft, sagt meine Frau) in Berlin (da habe ich nämlich seit kurzem eine kleine Ferienwohnung inkl. einer Nachbarin, die einem das Leben schwer macht), mag den Dialekt des Ruhrpotts und blühe auf in New York, weil dort jede Strasse wie im Kino ist – jeder hat so seine eigenen geografischen Marotten.
Und ich verlange von niemandem, dass er meine teilt. Aber wenn mir einer vorschwärmt, wie kalt doch die Deutschen sind und wie viel schöner es in Italien ist, weil man dort noch zu leben wisse – dann muss ich einfach «Berlusconi!» oder «Mafia!» rufen. Ich mag die USA und hasse es, wenn Landsleute (die auf der Landkarte nicht zu zeigen wüssten, wo Idaho oder Oregon liegen) sich darüber beklagen, dass die doofen Amis die Schweiz mit Schweden verwechseln. Ich gähne diskret und weiss, weitere Diskussionen werden nicht sehr erhellend sein. In diesem Fall habe ich indiskret gegähnt. Und mich über die Unbedarftheit eines politischen Journalisten geärgert, dem nichts Besseres eingefallen ist, als einen Wettstreit der Ressentiments zu inszenieren.
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