Was tun mit dem leeren Kirchenraum?
Umnutzung ist das Gebot der Stunde. Was geht, und was geht zu weit? Bibliothek ja, Armenküche auch, Disco: nein.

Geht es nach Alt-Abt Martin Werlen, müsste man das Kloster Einsiedeln abreissen und das barocke Ungetüm durch einen schlichten, funktionalen Bau ersetzen. Der aktuelle Klosterbau stehe vor allem für Macht: Tatsächlich war Abt Maurus von Roll, der ihn 1704 anstelle des früheren Klosters errichten liess, auch weltlicher Fürst. Will sich die Kirche glaubwürdig auf die Seite der Armen schlagen, verträgt es keine Repräsentations- und Protzkirchen mehr. Sie wirken bestenfalls museal. Dies die Logik des Benediktinermönchs. Nur: Sind Klöster und Kirchen nicht auch historische Zeugen? Darf man die Kosten des Unterhalts gegen den (kunst-)historischen Wert aufrechnen?
Lässt sich der Wert der Kirchen überhaupt berechnen? Was ist eigentlich ihr Wert: der symbolische Wert, der spirituelle Wert oder der Marktwert? Kirchen sprengen per se das Zweckrationale. Sie verweisen auf das Unquantifizierbare, Unsagbare, Unverfügbare. Kirchen sind, zumal in einer Welt der «platten und banalen Diesseitigkeit» (Dietrich Bonhoeffer), Zeugen der Transzendenz. Auch architektonisch überragen sie im traditionellen Stadtbild die anderen Gebäude. Ihre überdimensionierten Schiffe, Kuppeln, Türme, verstärkt durch den Hall der Glocken und den Klang der Orgel, stimmen auf eine Kommunikation ein, die in die Vertikale weist.
Es ist zuerst diese Architektur, die einen glauben lässt, vertikal kommunizieren zu können mit jemandem, der Person, der Gott ist. «Was theoretisch unwahrscheinlich ist, wird durch die Architektur empirisch erwartbar gemacht», sagt der Linguist Heiko Hausendorf, der an der Universität Zürich eine Ringvorlesung zum «Kirchenraum im Wandel» organisiert. Den Sprachwissenschaftler interessiert aus nicht theologischer Perspektive der Konnex von Raum und Sprache. Er befasst sich mit dem lesbar gemachten Kirchenraum als gebautem Text – und, auf den Sakralraum zugeschnitten, mit der ritualisierten, formelhaften Sprache der Liturgie.
Sind auch Protestanten «eigentlich» katholisch?
Laut seinem Mitinitianten, dem evangelischen Theologen Ralph Kunz, ist heute auch für die Protestanten der Kirchenraum irgendwie ein sakraler und geweihter Raum, der dem Numinosen eine Behausung gibt. Dass die Reformierten das Kirchengebäude rein profan und funktional verstehen, hält er für Unsinn. Jetzt, wo nicht nur die Zürcher Reformierten im Zuge der Strukturreformen Kirchengebäude aufgeben müssten, entdeckten auch sie, dass sie katholisch seien: «Sie werden sich bewusst, dass auch sie eine Krypta haben, einen Untergrund in Gestalt der 1500-jährigen katholischen Geschichte, die der Reformation vorausging.»

In Zeiten der Digitalisierung, die auf das Raumerlebnis einer stimulierenden Architektur verzichten muss, wird der Kirchenraum zum Kontrastprogramm. Mit Singen, Klatschen und zum Friedensgruss gereichten Händen agieren die Gottesdienstteilnehmer als Gruppe. Nur der Echtraum ermöglicht ein Gemeinschaftserlebnis, wie es Jesus versprochen hat: «Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen» (Matthäus 18,20).
Gemeinschaft ist für die Kirche konstitutiv. Nicht nur Jesus, auch der Kirchenraum ist gemeinschaftsstiftend. Die Botschaft des Evangeliums hat sich in Architektur und Liturgie verfestigt. Beides ist vorgegeben, und beides trägt das heilige Geschehen, das der Gläubige nicht selber erfinden muss.
Doch der Kirchenraum lebt auch ohne die Gottesdienst feiernde Gemeinde. Auch die leere Kirche hat ihren Wert: Sie spricht zum einsamen Beter, lädt ihn ein zu Stille und Meditation, zum Gebet, das er füllen kann, wie ihm gerade zumute ist. Die Kirchen selber haben den leeren Raum längst entdeckt und bieten ihn als «Ort der Stille» an. Vielleicht machen sie aus der Not eine Tugend. Doch der Kirchenraum bewährt sich gerade auch als Ort des Schweigens, der Entschleunigung, als Ort, wo man offline sein kann.
Touristen stürmen die Zentrumskirchen
Es ist paradox: Die Kirchen leeren sich, die Zentrumskirchen aber sind überfüllt. An Heiligabend wollen auch Kirchenferne und weltanschaulich Obdachlose ein spirituelles Event erleben. Und ausserhalb der Gottesdienste hat die touristische Nutzung in den Zentrumskirchen so stark zugenommen, dass Touristen in der Londoner Westminster Abbey oder im Zürcher Fraumünster Eintritt zahlen müssen – als ob man das touristische, das kunstgeschichtliche und das spirituelle Interesse trennen könnte. Auch Touristen möchten in der Kirche bisweilen etwas anderes erleben als im Museum. Mit dem Eintritt versündigt sich die Kirche an ihrer Botschaft. Für Ralph Kunz sind die Zentrumskirchen, wenn schon, ein «enormes symbolisches Kapital».
So oder so: Die Umnutzung von Kirchen und die Debatte darüber sind in vollem Gang. An der Universität Bern hat Kunsthistoriker Johannes Stückelberger eine Datenbank mit 200 Kapellen, Kirchen, Klöstern in der Schweiz erstellt, die in den letzten 25 Jahren eine Umnutzung erfahren haben oder eine solche erfahren sollen. Für Heiko Hausendorf wird die Umnutzung dann problematisch, wenn der Raum anders genutzt wird, als es seine Architektur vorsieht, wenn etwa die Kirche zum Restaurant, Loft, zur Disco oder Yogahalle wird.

Kunz zufolge gibt es sehr wohl einen kreativ zu nutzenden Spielraum, sofern man, theologisch gesprochen, auf der Spur des Evangeliums bleibt. Das tut eine Bank oder ein Casino gewiss nicht, eine Bibliothek oder ein Kolumbarium (Urnenhalle) schon. Auch darf die Kirche seiner Meinung nach ihre Gastfreundschaft über den Gottesdienst hinaus erweitern und im Kirchenraum eine Gassenküche oder, dem Vorbild Zwinglis folgend, Armenspeisungen einrichten. Citykirchen wie der Offene St. Jakob sind für ihn ein legitimes Experimentierfeld. Was aber an einem Ort funktioniere, solle nicht zum Modell aller Umnutzungen werden.
Die konfessionelle Umnutzung ist die wohl sinnvollste. Aus der christkatholischen Elisabethenkirche in Zürich-Wiedikon ist die serbisch-orthodoxe Kirche Heilige Dreifaltigkeit geworden. Von Zürich bis Bern entstanden in Schweizer Städten in den letzten Jahrzehnten unzählige christliche Migrantenkirchen, die Gottesdiensträume suchen. Wenn christliche Eritreer, Tamilen oder Afrikaner überflüssige Kirchenräume der Katholiken oder Reformierten nutzen, ist das im Sinne der Integration und gewiss auch des Evangeliums.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch