Rezension: Wer sind wir?Was uns zum Menschen macht
Der Anthropologe Michael Tomasello legt atemberaubende Forschungsergebnisse vor – darüber, ob die Biologie bestimmt, wer wir sind, oder doch die Kultur.

Die immer wieder aktuellen Debatten über das Verhältnis von Mensch und Tier sind in der Geistesgeschichte oftmals mit der Frage nach deren Ähnlichkeiten und Unterschieden verknüpft worden. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die einen kategorialen Unterschied und damit die Einzigartigkeit des Menschen postulieren. René Descartes mit seinem ontologischen Dualismus ist dafür ein berühmtes Beispiel: Während der Mensch aus Geist und Körper besteht, ist das Tier pure Materie, was sich allein schon daran zeigt, dass es nicht über Sprache verfügt.
Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die nur einen graduellen Unterschied sehen und damit den Menschen als eine Tierart unter mehreren einordnen. Für den Materialisten Julien Offray de La Mettrie beispielsweise bestand zwischen den geübtesten Menschenaffen und den ungeübtesten Menschen kaum ein Unterschied.
Kontroverse reisst nicht ab
Dualisten im Sinne von Descartes sind selten geworden und in den Naturwissenschaften so gut wie ausgestorben. Dennoch wird die Frage nach wie vor kontrovers debattiert. Mit seinem neuen Buch, das eine atemberaubend fundierte Summa aus mehr als dreissig Jahren Forschung darstellt, bezieht der Psychologe Michael Tomasello in dieser Diskussion klar Stellung: Der Mensch ist ein Tier, und gleichzeitig ist er einzigartig.
Mit diesem Problembereich ist ein anderer verknüpft, nämlich die Frage, ob der Mensch mit all seinen Denk- und Verhaltensweisen Ausdruck von Natur oder Kultur ist. Ist es die evolutionäre Prägung oder eher die soziokulturelle Erfahrung, die uns charakterisiert? Auch in dieser nicht minder kontrovers geführten Diskussion hat Tomasello eine dezidierte Position: Nur in der Kombination aus Evolution und individueller soziokultureller Erfahrung konnte so etwas wie die menschliche Einzigartigkeit entstehen.
Wenn das Buch im Untertitel eine Theorie der Ontogenese verspricht, so ist das als umfassender Entwurf in dem Sinne ernst zu nehmen, dass zwar nicht alle Bereiche menschlichen Verhaltens abgehandelt werden - Sexualität, Aggression und Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben kommen nicht vor -, wohl aber diejenigen, die an der Wurzel des Unterschieds zwischen Mensch und Tier liegen. Darunter versteht Tomasello die Entwicklung hin zu einer kognitiven und einer moralischen Identität, die Kinder ungefähr mit sechs Jahren erreicht haben.
Der neunte Lebensmonat ist entscheidend
In diesem ontogenetischen Entwicklungspfad hat Tomasello vier Stadien und eine Reihe von unterschiedlichen Komponenten identifiziert, die sich in gröbster Vereinfachung so zusammenfassen lassen. Babys teilen mit ihren Bezugspersonen Gefühle, aber das markiert noch keinen kategorialen Unterschied zu Menschenaffen. Mit der sogenannten Neun-Monats-Revolution trennen sich dann die Pfade, wenn nämlich Kleinkinder geteilte Intentionalität entwickeln. Sie vermögen mit anderen Individuen ein gemeinsames «Wir» zu erzeugen und können dabei auch die Perspektive der jeweils anderen einnehmen.
Im Alter von drei bis vier Jahren erweitert sich die gemeinsame Intentionalität zur kollektiven Intentionalität. Die Fähigkeit zur kooperativen Kommunikation mit Erwachsenen und Gleichaltrigen sorgt nun dafür, entsprechende Konventionen und Normen zu respektieren, an ihnen teilzuhaben und sie auch gegenüber anderen zu vertreten.
Tomasello gelingt es, Einzelforschungen zu einem Gesamtentwurf zusammenzufügen, der mehr ist als die Summe seiner Teile.
In kognitiver Hinsicht bildet sich eine «objektive», und in moralischer Hinsicht eine normative Perspektive, um Phänomene, Dinge oder Situationen zu beurteilen. Schliesslich, etwa zur Zeit der Einschulung, verfestigen sich Vernunft und Verantwortlichkeit zu einer kognitiven und moralischen Identität. Diese besteht darin, dass durch Kooperation mit anderen eigene Überzeugungen und Handlungen revidierbar sind, wenn dafür plausible Gründe angegeben werden. Zugleich werden diese Mechanismen in der Weise verinnerlicht, dass Kinder solche Gründe zu antizipieren vermögen, bevor sie eigens ausgesprochen werden. Keine von diesen Entwicklungen findet sich – bislang jedenfalls – bei Menschenaffen, und je weiter die menschliche Ontogenese voranschreitet, desto wichtiger werden Erfahrungen und Lernen gegenüber einer blossen Reifung.
Riesiger Forschungsfundus
«Mensch werden» ist das Resultat eines immensen experimentellen Forschungsprogramms, das Tomasello mit seiner Arbeitsgruppe im Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie betrieben hat. Die Bibliografie enthält nicht weniger als 250 Forschungsarbeiten, an denen Tomasello als Haupt- oder Mitautor beteiligt war.
Es gehört nicht mehr zu den Usancen der experimentell verfahrenden Lebens- und Humanwissenschaften, dass Einzelforschungen zu einem Gesamtentwurf zusammengefügt werden, der mehr ist als die Summe seiner Teile. Genau das gelingt Tomasello jedoch auf phänomenale Weise, weil er sich beim erzählerischen und argumentativen Aufbau seines Buches am Beispiel Charles Darwins orientiert.
Jedem einzelnen untersuchten Aspekt der Theorie ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Dieses besteht jeweils aus Problemstellung, Zusammenfassungen der empirischen Befunde aus Experimenten mit Kindern und Menschenaffen, interkulturellen Vergleichen und einer theoretischen Einbettung. Und es beinhaltet eine minutiöse Diskussion von Einwänden, Kritikpunkten und Unvollständigkeiten der Theorie. Diese überbordende Materialfülle und Sorgfalt führen bisweilen zu Detailverliebtheit und Redundanzen, machen aber einen wesentlichen Bestandteil der Überzeugungskraft von Tomasellos Theorie aus.
Mehr auf die spezifischen Entwicklungsschritte eingehend, könnte man fragen, ob Tomasello nicht zu viel Augenmerk auf die kindlichen Anpassungsprozesse legt und die Keime von Widerspruchsgeist und Eigensinnigkeit zu gering veranschlagt. Ein anderer Punkt wäre die geringe Berücksichtigung der Bedeutung der Sprache, worauf Jürgen Habermas noch in seinem jüngsten Werk hingewiesen hat. All das ändert jedoch nichts daran, dass in Tomasellos Theorie ein enormes emanzipatorisches Potenzial liegt.
Für eine differenzierte Entwicklungspsychologie
Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass diese Theorie auf alle bedrängenden Fragen eine Antwort parat hätte. Irrationaler Hass, Ressentiment, Destruktivität, analoger oder digitaler Massenwahn, kollektives Verschwörungsdenken, Rassismus und verwandte Phänomene, welche gegenwärtig die Schlagzeilen bestimmen, kommen bei Tomasello nicht vor. Doch schreibt er, dass die so hoch im Kurs stehende Empathie nicht ausreicht, um eine moralische Persönlichkeit zu entwickeln. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass es mindestens ebenso sehr kognitive Tugenden sind, die die Verbindung zwischen dem Individuum und dem Aufbau einer auf Kommunikation, Gerechtigkeit, Gleichbehandlung und perspektivischer Flexibilität basierenden Gesellschaft ausmachen. Das reicht nicht, aber ohne die von Tomasello so eingehend beschriebenen frühen Prozesse der Persönlichkeitsbildung ist alles nichts.
Nachdem die allgemeinen Vorstellungen über das Menschsein in den vergangenen beiden Jahrzehnten allzu sehr von der eher schlichten Anthropologie der Neurowissenschaften bestimmt war, ist es an der Zeit, sich auf die Stärken der differenzierteren Entwicklungspsychologie in der Tradition Lew Wygotskis oder Jean Piagets zu besinnen. Michael Tomasello hat diese Tradition wiederbelebt und damit die Diskussion um die Einzigartigkeit des Menschen als Resultat biologischer und kultureller Prozesse auf ein ganz neues Niveau gehoben.
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