
Das schriftliche Festhalten der schrecklichen Geschehnisse, denen ich ausgesetzt war, hatte in der schlimmsten Zeit meines Lebens eine heilende Wirkung. (...) Ich verlor die Orientierung, die Belastung wurde unerträglich. Dann endlich begann ich zu schreiben.
So beginnt das Buch, das Georg Metger gestern veröffentlicht hat. Er ist der Lebenspartner der in Rupperswil am 21. Dezember 2015 getöteten 48-jährigen Frau. Nach dem Vierfachmord gilt er lange als Hauptverdächtiger. Denn Menschen aus dem Beziehungsumfeld, erfährt er kurz nach der Tat, gehören statistisch betrachtet zu den häufigsten Verursachern schlimmer Familienverbrechen.
Metgers Alibi wird durch eine Sicherheitskamera am Arbeitsort und durch Aussagen von Arbeitskollegen bestätigt. Was er nicht weiss: Er wird observiert, monatelang und rund um die Uhr, es läuft eine Strafuntersuchung wegen dringenden Tatverdachts. Hat er das Haus der Familie nicht kurz vor dem Vierfachmord verlassen? Vielleicht hat er einen Auftragskiller angeheuert?
Die Staatsanwaltschaft ermittelt, die Medien spekulieren. Obskure Theoretiker melden sich beim Trauernden, religiöse Gemeinschaften, Hellseher, viele, die ihn für den Täter halten, aber auch Frauen, die ihn heiraten wollen. «Hey, sorry für die Störung. Weisst du, wer der Täter ist?», schreibt ein Unbekannter.
«Hey, sorry für die Störung. Weisst du, wer der Täter ist?», schreibt ein Unbekannter.
Metger fühlt sich leer, verzweifelt, von schlimmsten Gedanken gequält. Er hat seine Liebsten nicht beschützen können. Sie sind tot, er lebt. «Verschont geblieben zu sein, erscheint mir als härteste Bestrafung», schreibt er. Schockstarre, Fassungslosigkeit, Nicht-wahrhaben-Wollen. Abgrundtiefe Trauer.
Das ist der erste Verdienst dieses Buches: Es macht das Leiden des Schreibenden spürbar. Und es zeigt, wie einschneidend der Verlust durch ein Gewaltverbrechen ist. Wie nachhaltig auch.
Erst mehr als 300 Tage nach dem Vierfachmord darf Metger das Haus, das auch sein Zuhause war, wieder betreten. Die Ruhe sei so gewesen, wie er sie sich vorgestellt habe: kaum auszuhalten.
Ich trete in unser Schlafzimmer. Das Mobiliar ist teilweise zerstört, das Bett steht hochgeklappt an der Wand. Auf dem Sideboard entdecke ich die Kaffeetasse, die ich (...) an ihrem Todestag ans Bett gebracht habe. Ich sehe sie vor mir.
Zu diesem Zeitpunkt hat Metger längst mit Schreiben begonnen. Eine Freundin vermittelt ihm den Kontakt zum Wörterseh-Verlag, in enger Zusammenarbeit mit der Autorin Franziska K. Müller entsteht schliesslich «Für immer – Die unfassbare Tat von Rupperswil und ihre Folgen». Manches klärt sich für Metger durch das Schreiben, manches kann er sogar loslassen. Die Tantiemen wird er für wohltätige Zwecke spenden.
Er hat das Buch für sich verfasst – aber auch für die vier Verstorbenen. Sie dürften niemals in Vergessenheit geraten, und sie dürften nicht nur als Opfer in Erinnerung bleiben, schreibt er. «Sondern als das, was sie waren: einzigartige, wunderbare Menschen.»
Sie dürften nicht nur als Opfer in Erinnerung bleiben, schreibt er. «Sondern als das, was sie waren: einzigartige, wunderbare Menschen.»
Das ist das zweite Verdienst des Buchs: Es gibt den Opfern ein Gesicht. So ist das Buch auch eine Familiengeschichte. Eine Liebesgeschichte. Metger und seine spätere Lebenspartnerin lernten sich in der Schulzeit kennen. Bald verliebte er sich in die schöne Blonde, himmelte sie an. Doch erst 2009 laufen sie sich an einem Hundeerziehungskurs wieder über den Weg – und finden die grosse Liebe. Da haben sie bereits je zwei Kinder. Das Zusammenleben in der Patchworkfamilie beschreibt Metger als harmonisch, aber nicht als konfliktfrei. Ins Kitschige verfällt er nicht.
Der oder die Täter sind noch immer auf freiem Fuss. Was hat er, was haben sie in den vergangenen drei Monaten gemacht? Einfach weitergelebt? Die ersten Sonnenstrahlen genossen? Die Vögel pfeifen gehört? Findet er, finden sie Schlaf?
Äusserlich funktioniert Metger. Innerlich aber spürt er «bodenlosen Schmerz» und «allumfassende Leere». Die polizeilichen Befragungen werden, auch bei den Angehörigen, mit der Zeit weniger, was bei Metger ungute Gefühle auslöst. Zwar wurden ihm «jedes Mal hundert bis zweihundert Fragen gestellt, ein anstrengendes Prozedere», doch gleichzeitig entstand auch der «Eindruck von Dynamik und Fortschritt», wie er schreibt. «Jetzt müssen wir es aushalten, nicht mehr involviert zu sein und nicht zu wissen, ob das Einsatzkommando einer Spur folgt oder noch immer im Dunkeln tappt.»

Im Mai 2016 wird der Täter gefasst. «Einer aus unserer Mitte», schreibt Metger. Und reiht dann Fragen an Fragen aneinander, ohne sie zu beantworten – weil es auf sie keine Antworten gibt. Was hat Thomas N., dessen Name im Buch kein einziges Mal genannt wird, kurz vor der Tat gemacht? Ein Butterbrot zum Frühstück gegessen? Und nach dem Vierfachmord: Hat er da auch eine Kerze vor dem Haus der Verstorbenen platziert? Am Trauergottesdienst teilgenommen? Sich am Leid der Angehörigen erfreut?
Aus den Fragen ergeben sich neue, noch schmerzvollere Fragen. Als Hohn empfindet Metger, dass die Polizei bei der Rekonstruktion des Tatablaufs auf die Kooperation des Mörders angewiesen ist. Vom sexuellen Übergriff auf das jüngste Opfer etwa weiss sie nichts, bis dieser davon erzählt. War in Wahrheit alles noch viel grausamer?
Unbekanntes Hassgefühl
Metger ist direkt, und er ist ehrlich – auch zu sich selbst. So gibt er unumwunden zu, wie sehr er den Vierfachmörder gehasst hat, ein Gefühl, das ihm bis anhin völlig fremd war. Und wie sehr ihn dieser Hass auf die Probe gestellt hat.
Irgendwann erkennt der Trauernde, dass er dem Mörder nicht länger den Tod wünscht. «Sein Tod wäre ein Segen, den er nicht verdient hat», schreibt er. Der Hass bringt ihn nicht weiter. So wagt er die Flucht nach vorn:
Er wird zu einem Nichts, zu einer absolut bedeutungslosen Existenz. (...) Irgendwann schaffe ich, was er nicht geschafft hat: extreme Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Dies ist für mich ein enormer Kraftaufwand.
Das Buch ist auch eine Abrechnung. Mit der Staatsanwaltschaft, die Metger erst fünf Monate nach der Verhaftung des Täters über die Überwachungsmassnahmen informierte. Mit den Medien, die Grenzen überschritten haben. Mit dem Staat, der seines Erachtens zu wenig psychologische Hilfe angeboten hat.
Man muss dieses Buch nicht lesen. Aber man kann – wenn man verstehen will, was den Hinterbliebenen eines so brutalen Verbrechens widerfährt. Und was ihnen hilft: Menschen nämlich, die mit ihnen reden und schweigen. Oder einfach nur Brötchen in den Briefkasten legen, Morgen für Morgen, wochenlang.
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Weiterleben, irgendwie
Der Lebenspartner der in Rupperswil getöteten Mutter hat ein Buch geschrieben. Gegen den Schmerz. Und für die vier Opfer. Nicht an den Täter, sondern an sie müsse man sich erinnern.