Wenn die Mutter zur Flasche greift
Das Schicksal von Esther, Tochter einer Alkoholikerin, zeigt: Die Sucht macht die ganze Familie krank.

«Grüezi, ich hätte gern Zigaretten und einen Liter Rotwein, meine Mutter braucht ihn zum Kochen.» An manchen Tagen musste das kleine Mädchen den Weg zum Quartierladen mehrmals gehen. Immer mit demselben Auftrag: Zigaretten und billigen Wein zu kaufen. Irgendwann hat das ältere Verkäuferpaar im Quartierladen nur noch gelacht: «Ja, ja, einen Liter Wein zum Kochen, was sonst.» Das kleine Mädchen hat sich so geschämt. Esther ist heute Mitte 40, Mutter von drei Kindern, geschieden, sie lebt in der Ostschweiz. Die Alkoholsucht der Mutter hat ihr Leben geprägt. Esther erzählt ihre Geschichte, weil sie Kinder, Ehepartner oder Eltern von Alkoholikern auffordern will, sich Hilfe zu holen. Denn nicht nur der Alkoholiker selbst, fast mehr noch sein Umfeld, vor allem die Familie, leidet unter seiner Sucht. Esther sagt: «Alkoholismus ist eine Familienkrankheit.» Man spricht auch von Co-Süchtigen oder Co-Kranken. Es ist eine Krankheit, die sehr viele Kinder betrifft: In der Schweiz leben schätzungsweise 110 000 Buben und Mädchen mit einem Vater oder einer Mutter, die zu viel Alkohol trinken. Denkt Esther an ihre Kindheit, sieht sie die betrunkene Mutter vor sich, wie sie lallend durch die Wohnung torkelt. Nicht mehr ansprechbar und sehr aggressiv.
Schon am Morgen begann sie mit Rotwein
«Mama hat heimlich getrunken. Schon am Morgen begann sie mit Rotwein. Ich habe das Klicken des Küchenschrankes gehört und wusste, jetzt nimmt sie ihr Weinglas raus. Als ich um 12 Uhr von der Schule kam, war Mama besoffen. Sie hat Unmengen in sich geschüttet. Mein jüngerer Bruder und ich schleppten die Weinflaschen an. Und der Vater sorgte auf Befehl für Bier und Schnaps – Mama kann Gott sei Dank nicht Auto fahren. Gegen aussen waren wir die perfekte Familie, immer freundlich, immer nett. Wir haben Mama gedeckt, für sie gelogen. Aber die Verwandten, die Nachbarn, alle haben gewusst, dass sie säuft, alle haben weggeschaut. Ihre Sauferei war ein grosses Tabu. Nicht ein einziges Mal haben meine Grosseltern, Mamas Eltern, etwas gesagt. Dabei wohnten sie im Haus nebenan, natürlich haben sie mitbekommen, wenn Mama besoffen war.»
Esther, Musiklehrerin von Beruf, ist eine zierliche Erscheinung, sie trägt frühlingshafte Pastelltöne, was ihre Zartheit noch unterstreicht. Aber ihre Sprache ist hart, brutal gar, wenn es ums Trinken geht. Heute kann sie darüber reden, viele Jahre hat sie geschwiegen, sie war knapp 30, als sie bei den Al-Anon-Familiengruppen (Alcoholics Anonymous Family Groups) Unterstützung fand. Die Gemeinschaft bietet Hilfe für Familien von Alkoholkranken, wie die Gruppe der Anonymen Alkoholiker (AA) für den Süchtigen selbst. Al-Anon sind in 130 Ländern vertreten, selbst in muslimischen Ländern wie Ägypten.
Mit jedem Jahr wurde es schlimmer
In der Deutschschweiz existieren 30 Al-Anon-Gruppen für Frauen, deren Ehemänner zu viel trinken, Eltern, die befürchten, ihr Kind könnte abhängig sein, oder Erwachsene, die in einem Elternhaus aufgewachsen sind, wo der Alkohol regierte. Angehörige von Alkoholikern leiden häufig unter Depressionen und anderen psychischen Belastungen. Und: Kinder von Alkoholikern haben ein sechsfach höheres Risiko, später selber süchtig zu werden. Esther erzählt: «Mamas Sucht kam schleichend, mit jedem Jahr wurde es schlimmer, schliesslich hat sie den Haushalt gar nicht mehr gemacht. Mit 12 oder 13 habe ich für den Vater und den Bruder gekocht und geputzt, so gut es ging. Nie hätte ich Freundinnen mit nach Hause genommen, ich habe mich geschämt, wegen des dreckigen Bodens und wegen der Mutter sowieso. Wir Kinder durften immer seltener aus dem Haus, aus Angst, wir könnten reden.
Mamas Sucht kostete einen Haufen Geld. Man war froh, die Rechnungen bezahlen zu können. Für mich blieb nichts übrig.
Das Geld war knapp. Mamas Sucht kostete einen Haufen Geld. Man war froh, die Rechnungen bezahlen zu können. Für mich blieb nichts übrig. Wir Kinder trugen lausige Kleider, wir stanken nach Rauch, in der Schule wurden wir deshalb geplagt. Aber ich habe mich gewehrt, ich war extrem laut, ich hatte immer und mit allen Streit. Einmal musste ich beim Schulpsychologen antraben und wurde durchgecheckt. Der Psychologe befand, in der Schule sei alles normal. Gibts vielleicht zu Hause ein Problem? Natürlich habe ich nichts gesagt. Auf dem Stuhl neben mir sass Mama.
Mein Bruder ist anders als ich, er wurde immer stiller. Er hat schweigend gelitten, wie auch der Vater schweigend gelitten hat. Der Vater war völlig hilflos, total überfordert. Er ist in den Wald geflüchtet, er holzte bis zum Gehtnichtmehr. Oder er ging pilzeln, fischen oder Töff fahren, er hatte immer wieder ein neues Hobby – für uns Goofen war er nie da. Warum er bei der Mutter geblieben ist? Das wissen die Götter.»
Jede fünfte Person trinkt zu viel oder zu oft
In der Schweiz sind 250 000 bis 300 000 Menschen alkoholsüchtig, das heisst, sie haben die Kontrolle über ihren Alkoholkonsum verloren. Jedes Jahr sterben etwa 1600 Frauen und Männer im Alter zwischen 15 und 74 Jahren am Alkohol. Jede fünfte Person trinkt zu viel oder zu oft. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) rät: Gesunde erwachsene Männer sollten nicht mehr als zwei bis maximal drei Gläser Alkoholisches am Tag zu sich nehmen, Frauen maximal zwei Gläser. Frauen vertragen weniger Alkohol, weil sie meist leichter sind, ihr Körper weniger Wasser enthält und ihr Stoffwechsel den Alkohol weniger gut verarbeiten kann. Und, so das BAG, es empfehle sich, jede Woche an mehreren Tagen gar keinen Alkohol zu trinken.
«Ich kann mich nicht erinnern, Mama je nüchtern erlebt zu haben», blickt Esther zurück. «Selbst wenn wir mal wandern gingen, war sie betrunken – und extrem hässig. Am liebsten hockte sie daheim vor dem TV. Sie trank, rauchte, schluckte Tabletten, mehrmals ist sie zusammengebrochen. Hilfe wollte sie nicht, wieso auch? Sie schaffe das allein. Einmal hat sie im TV eine Reportage über Alkoholiker gesehen. Verglichen mit denen sei sie längst nicht abhängig – daran glaubte sie sogar.
Ein falsches Wort, und sie rastete aus
Den günstigen Zeitpunkt für ein Gespräch gab es nie. Einmal habe ich sie gefragt, ob ich bei einer Freundin übernachten dürfe. Sie hat es erlaubt. Stunden später wurde ich von der Polizei gesucht. Mama hat alles vergessen. Ich war schuld. War Mama besoffen, hat sie uns aufs Schlimmste beschimpft. Ein falsches Wort, und sie rastete aus. Eines Tages habe ich «cool» gesagt, das Wort war gerade in, das brachte sie auf die Palme. Kam ich einmal zu spät nach Hause, redete sie tage-, wochenlang kein Wort mit mir. Überhaupt: Wir waren schuld, dass sie so viel trinken musste. Weil ich schlechte Noten heimbrachte, weil Vater zu oft weg war, irgendeinen Gugus hat sie immer gefunden.» Der Alkoholiker leugnet, dass er ein Trinkproblem hat, leugnet, dass er süchtig ist. Vor allem leugnet er, dass er seiner Familie Kummer macht. Vielmehr wirft er dem Ehepartner und den Kindern vor, Grund für die miserable Stimmung zu sein. Die erfolglosen Hilfsversuche der Kinder führen zu Frustration, Ohnmacht oder Wut. Esther sagt: «Ich war so wütend, voller Hass auf diese Frau. Immer wieder habe ich geträumt, sie zu erschiessen. Das Schlimmste war, dass ich keine Mutter hatte. Keine Geborgenheit, keine Sicherheit. Ich fühlte mich immer allein. Jeden Tag stellte sie neue Regeln auf, tags darauf hat sie alles vergessen. Auf Mama war kein Verlass. Immer wieder hat sie versprochen, mit dem Trinken aufzuhören. Immer wieder wurde ich enttäuscht.» Mit 14, Esther erinnert sich ganz genau, sei ihr auf einen Schlag bewusst geworden: Mama trinkt. Es war ein Schock. Damals habe ich ihr alles an den Kopf geworfen: Du säufst, du bist eine Alkoholikerin! Es war wie ein Ventil, das sich endlich öffnete. Mama hat alles abgestritten. Dann fängt man an zu kontrollieren. Den Harass Bier im Keller, den Wein und Schnaps in der Stube. In einem Zimmer hatte sie eine Kiste Bier versteckt, «Bitte nicht trinken», hat der Vater in seiner hilflosen Art auf einen Zettel geschrieben. Natürlich war die Kiste am nächsten Tag leer.»
«Manchmal war sie anders als sonst, manchmal roch sie komisch»
Angehörige von Alkoholikern müssen zur Einsicht gelangen, dass sie deren Trinken nicht stoppen können, egal, wie sehr sie sich anstrengen. Sie müssen lernen, ihr eigenes, vernachlässigtes Leben in die Hand zu nehmen. Einmal die Woche trifft sich die Al-Anon-Selbsthilfegruppe an einem neutralen Ort. Anonymität ist das oberste Gebot, man nennt sich beim Vornamen, alles andere ist unwichtig. Jeder erzählt, die andern hören zu, ohne Kommentare, ohne Ratschläge zu geben. Man zeige lediglich Wege auf, jeder müsse seinen eigenen Pfad finden, ohne Druck von aussen. «Das ist kein Kaffeekränzchen», betont Esther, es brauche Mut, genau hinzuschauen. Man müsse bereit sein, an sich selber zu arbeiten: «Mich kann ich ändern, alles andere nicht.» Das brauche viel Zeit und Geduld, aber: «Es ist eine unheimliche Entlastung, ich muss nicht mehr alles kontrollieren, nicht mehr für alles zuständig sein.» Die Trunksucht der Mutter hat Esther das ganze Leben begleitet. Längst erwachsen, stand immer erst der Zustand der Mutter im Zentrum: Hat sie oder hat sie nicht? Ihren Mann, so Esther, habe sie nicht zuletzt auch wegen seiner intakten Familie geheiratet: «Eine Familie, die füreinander da ist, in der man sich aufgehoben fühlt, wo keiner besoffen war.» Aber trotz gutem Ehemann, herzigen Kindern, dem schönen Haus, habe sie sich todunglücklich gefühlt: «Die Harmonie war nicht auszuhalten, ich konnte nicht damit umgehen, ich suchte überall Streit.»
Da waren sie wieder, diese Schuldgefühle
Natürlich hätten die Kinder gemerkt, dass mit dem Grosi etwas nicht stimmte. Manchmal war sie anders als sonst, manchmal roch sie komisch. Nie aber habe sie vor den Kindern gesagt, «das Grosi ist besoffen». «Aber wenn sie trank, durften die Kinder nicht bei ihr übernachten.» Und prompt habe die damals 5-jährige Tochter gesagt: «Mama, wir haben doch nichts falsch gemacht, oder?» Da waren sie wieder, diese Schuldgefühle. Esther hat ihre Kinder denn auch in die Alateen-Gruppe (Al-Anon für Teenager) geschickt. Wo das Selbstbewusstsein der Jugendlichen gestärkt wird, wo sie lernen, den Fokus auf sich selber zu lenken – ohne das kranke Familienmitglied weniger zu lieben. Nie würde sie ihren Kindern den Alkohol verbieten, sagt Esther, «nein, Verbote bringen rein gar nichts». Die Kinder sollen ihre eigenen Erfahrungen machen – so habe der pubertierende Sohn denn auch zweimal das Badezimmer «vollgekotzt». Ihr eigenes Verhältnis zum Alkohol bezeichnet Esther als «normal», sie geniesse ein Gläschen Wein oder ein Schnäpschen dann und wann. «Ja, ich bin eine Geniesserin.»
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