Wenn Haimo das Herz im Leibe hüpft
«Das Päckchen»: Franz Hohlers neuer Roman führt mit einem verschollenen Buch ins 8. Jahrhundert.

In der Stiftsbibliothek St. Gallen wird das älteste Buch deutscher Sprache aufbewahrt, der «Abrogans», weit über tausend Jahre alt. Seinen Namen hat es vom ersten Eintrag, eben abrogans. Es handelt sich um ein lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch, und so folgt die Übersetzung «dheomodi», demütig. Das St. Galler Exemplar ist schon eine Abschrift, das Original, verfasst um 780, verschollen.
Franz Hohler hat sich für seinen neuen Roman vorgestellt, wie dieses Original geschrieben wurde, wie es verschwunden ist und wieder auftaucht. Bei ihm landet es schliesslich im Kloster Monte Cassino, nicht ohne dass es zuvor in der Zürcher Zentralbibliothek (ZB) digitalisiert wurde und somit der Forscheröffentlichkeit zugänglich ist.
Ein Bibliothekar dieser ZB ist auch einer der beiden Helden des Romans. Ernst Stricker heisst er, ist 48 und seit langem glücklich verheiratet mit seiner Jacqueline (40), auch Bibliothekarin. Wenn die beiden miteinander anstossen, dann «Auf unsere Verbindung!», und wenn sie sich auf einen «feurigen Abend» verständigen, dann wissen Sie, was gemeint ist.
Dan-Brown-mässige Szenen
Ernst hat nicht mal ein Handy. Der entscheidende Anruf, mit dem der Autor das Romangeschehen startet, ereilt ihn von einem öffentlichen Telefon am Berner Bahnhof aus. Er nimmt ab, sagt nicht «falsch verbunden», sondern hört zu, was die alte Dame am anderen Ende sagt. Er sucht sie auf, erhält von ihr, die ihn mit ihrem Neffen verwechselt, ein Päckchen, und schon ist der brave Ernst in eine Art Abenteuer verwickelt.
Das Päckchen enthält nämlich das genannte «Abrogans»-Original, und bald sind der wahre Neffe und auch, weil die Alte zu Tode gekommen ist, die Polizei hinter ihm her. Einmal muss Ernst Hitchcock- oder Dan-Brown-mässig aus einem Fenster klettern; bei einer einsamen Bergtour stürzt er fast zu Tode. Zum Glück werden diese Aufregungen (es sind schon alle) durch das gemächliche Erzähltempo des Autors aufgefangen; es ist wie einst, wenn der Grossvater erzählte und immer alles gut ausging. So auch hier.
Rasch siechende Leprakranke
Gegenstück zur Auffindung und Rettung des Buches ist die Geschichte seiner Entstehung, und auch die hat einen Helden. Hohler nennt ihn Haimo und stellt sich ihn als jungen Mönch im Kloster Weltenburg in Niederbayern vor. Wegen seiner schönen Handschrift darf er die Wörterliste, die ihm sein Abt gibt, niederschreiben. Der Abt schickt ihn auf eine Reise durch Süddeutschland und Italien, wo er in verschiedenen Klöstern den «Abrogans» kopieren lässt und seinerseits kostbare Schriften abschreibt: Copy/paste im Frühmittelalter, analog und im Schneckentempo.
Haimo führt seine Jugendliebe Maria mit sich, was natürlich einem Mönch verboten ist und zu Komplikationen führt. Alpenüberquerung, strenge Klosterregeln mit drakonischen Prügelstrafen, die Ewige Stadt Rom und viele Leprakranke, die überraschend rasch dahinsiechen, lockern das Geschehen auf, das aber seltsam blutleer bleibt. Weder bringt Hohler uns die ferne Welt nahe, noch schlägt er aus ihrer Ferne und Fremdheit Funken. Sein 8. Jahrhundert wirkt wie eine von allen Reizen des Originals bereinigte Kinderbibel. Haimo hüpft das Herz im Leibe, und Jacqueline bekommt eine Gänsehaut: So, in bequemer Draufsicht und ohne stilistischen Ehrgeiz, tritt die einstige wie die unsrige Welt bei Franz Hohler auf.
PS: Die Bibliothekare unserer Tage sind alles andere als weltfremde Biedermänner, sondern fit und digital up to date. Gerade bei der ZB!
Franz Hohler: Das Päckchen. Roman. Luchterhand, München 2017. 220 S., ca. 28 Fr.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch