Wenn nur noch Crowdfunding das Leben retten kann
Wie weiter, wenn die Krankenkasse teure Behandlungen nicht bezahlt? Per Spendensammlung über das Internet. Der Trend hat jedoch seine Tücken.
Die Stimme am Telefon will so gar nicht zum Foto passen, das die 37-jährige Andrea Müller von sich selbst veröffentlicht hat. Dieses Bild zeigt eine hübsche, lebensfroh lächelnde junge Frau mit Mütze. Ihre Stimme aber lässt erahnen, was die Mutter zweier Buben im Alter von acht und zehn in den letzten Jahren durchgemacht hat. Sie klingt matt und abgekämpft.
Andrea Müller leidet seit sechs Jahren an progredienter multipler Sklerose (MS). Es ist dies die aggressivste und heimtückischste Form der Nervenkrankheit. Sie schreitet unaufhaltsam und schnell fort, den Patienten geht es Monat für Monat, Jahr für Jahr schlechter. Eine Behandlung gibt es nicht dagegen. Jedenfalls keine, die in der Schweiz zugelassen wäre.
Angefangen hat alles mit müden Beinen nach bloss einer Stunde Spazieren. Dabei ist Müller, gelernte Malerin, passionierte Hobbytaucherin und Berggängerin, körperlich fit. «Ich dachte zuerst, ich hätte vielleicht einen Vitaminmangel, oder die Hormone würden verrückt spielen», erzählt sie. «Die Symptome wurden aber immer schlimmer.» Müller sucht ärztliche Hilfe und trifft anfangs auf wenig Verständnis. Sie müsse halt ins Fitness, sagt ihr ein Arzt. Erst als sie Mühe bekommt, Treppen zu steigen, überweist er sie an einen Neurologen. Die Diagnose ist ein Schock. Andrea Müller weint, hofft, dass sich ihr Schicksal aufhalten lässt. Nimmt Medikamente, die anderen helfen – aber ihr nicht.
Noch hundert Meter an einem Tag
Im Haus der Familie Müller im aargauischen Gränichen führen ein paar wenige Treppenstufen vom Eingang hinauf ins Wohn- und Esszimmer. Für Andrea Müller sind diese Stufen heute ein Hindernis, das sie nur noch mit viel Mühe bewältigt: «Treppensteigen fühlt sich an, als hätte mir jemand Bleigewichte an die Beine gebunden.» Etwa hundert Meter kann sie an guten Tagen auf ebenem Gelände noch gehen, dann ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. «Vor einem Jahr», sagt sie, «waren es noch fünfhundert.»
Noch kann Andrea Müller für ihre Kinder kochen, den Haushalt bewältigt sie ohne Hilfe. Aber lange wird das wohl nicht mehr gut gehen. Seit einem halben Jahr spürt sie in den Armen jenes Kribbeln, das sie anfangs auch in den Beinen wahrnahm. «Ich will den Fokus aufs Positive legen», sagt sie, «aber ich habe Angst, dass die Krankheit in den Armen denselben Verlauf nimmt wie in den Beinen.» Und dann?
Was dann kommt, daran mögen Andrea Müller und ihr Ehemann Andreas gar nicht denken. Andrea hadert nicht mit ihrem Schicksal, aber einfach hinnehmen will sie es nicht. Sie googelt, recherchiert, liest und stösst im Internet auf eine Behandlungsmethode, die so vielversprechend wie radikal klingt: die sogenannte autologe Stammzelltransplantation. Es ist eine Rosskur, die auch bei Krebserkrankungen angewendet wird. Man entnimmt den Patienten Stammzellen, danach erhalten sie eine Chemotherapie, die das Immunsystem zerstört. Denn es ist das Immunsystem, das MS auslöst. Nach der Chemotherapie werden die Stammzellen wieder implantiert, das Immunsystem baut sich neu auf. Hat die Therapie Erfolg, und das hat sie bei der Mehrzahl der Patienten, funktioniert sie wie ein «Reset». Das Immunsystem «vergisst» seine Fehlfunktion. Als Müller ihre Ärzte darauf anspricht, reagieren sie erst verhalten. Dann aber räumen sie ein, dass die Stammzelltherapie für sie die einzige Chance ist, die Krankheit zu stoppen.
Das Problem: Die Behandlung ist in der Schweiz noch nicht zugelassen. Zwar ist am Unispital Zürich eine Studie geplant, aber die kommt für Andrea Müller zu spät. In Moskau jedoch wird die Therapie bereits seit Jahren angeboten. Für rund 50'000 Euro. Ein Betrag, den sich die Müllers nicht leisten können. «Auf so etwas ist man nicht vorbereitet», sagt Andrea Müller. «Aber es geht um mein Leben. Es kann nicht sein, dass ich das vom Geld abhängig machen muss.» Ihre Recherchen zeigen ihr auch einen Ausweg: Crowdfunding. Seit einigen Wochen prangt Andrea Müllers Foto auf dem Portal Leetchi.com, darunter steht: «Help me get my life back.»
Trend kommt aus den USA
Crowdfunding, das Spendensammeln im Internet, kennt man hierzulande vor allem, um Kulturprojekte, Start-ups und Hilfswerke zu finanzieren. Dass Menschen wie Andrea Müller für eine medizinische Behandlung Geld sammeln, das ist neu in der Schweiz.
Anders in den USA. Dort hat sich das Crowdfunding für Kranke schon vor Jahren etabliert. Kein Wunder: Trotz Gesundheitsreform sind noch heute rund 30 Millionen Amerikaner unversichert. Krebsbehandlungen und viele Operationen sind für sie unbezahlbar; Geld im Internet zu sammeln, ist für viele die einzige Option. Und sie ist Erfolg versprechend: Give Forward, die erste Spendenplattform, die sich auf Sammlungen für Kranke spezialisiert hat, verbuchte schon in den ersten vier Jahren seit ihrer Gründung im Jahr 2008 über 15 Millionen Dollar an Spenden. Wie fast jeder amerikanische Trend breitet sich das medizinische Crowd-funding nun auch in Europa aus. In Deutschland fasste es vor etwa drei, vier Jahren Fuss. Allein auf Leetchi sammeln Hunderte Geld für diverse Behandlungen.
Da ist jener junge Mann, der in Thailand unter nicht geklärten Umständen eine Treppe hinunterstürzte und seither im Koma liegt. Seine Familie sammelt Geld, um ihn nach Deutschland rückführen zu können.
Da sind Eltern, deren Baby ein verkürztes Bein hat. Es bräuchte, um je laufen zu können, eine Operation, welche die Krankenkasse auch bezahlen würde. Aber den Eltern fehlt das Geld für die Fahrt in die Klinik.
Da ist das schwerbehinderte Mädchen, das sich eine Delfintherapie wünscht.
Da sind etliche junge Frauen, die unter einem Lipödem leiden, einer unkontrollierten Wucherung von Fettzellen. Die Krankheit lässt sich nur operativ stoppen, aber die Behandlung ist nicht kassenpflichtig.
Da sind Krebskranke, die um Geld für Therapien bitten – manche sind reichlich obskur.
Wie viele Sammlungen für Kranke bereits über die Website Leetchi gelaufen und wie viele Spenden so zusammengekommen sind, kann Sprecherin Anastasia Heilmann nicht sagen. Sicher ist: Es werden immer mehr.
Spender haben keine Kontrolle
Auch in der Schweiz dürfte sich das Phänomen in Zukunft ausbreiten. Das jedenfalls erwartet Michel Romanens. Der Kardiologe aus Olten ist Präsident des Vereins Ethik und Medizin Schweiz. «Je mehr Behandlungen aus Kostengründen faktisch rationiert sind, desto mehr Menschen wird gar nichts anderes übrig bleiben, als zu solchen Sammelaktionen zu greifen», sagt er. Krankenkassen weigerten sich zum Beispiel, eine hochwirksame Behandlung gegen Hepatitis C zu bezahlen. «Betroffene kaufen das Medikament deshalb auch in Indien», sagt Romanens. «Aber längst nicht alle können sich das leisten.» Andere Therapien wie jene, die Andrea Müller helfen könnte, sind längst als wirksam etabliert, aber in der Schweiz nicht zugelassen.
Für Romanens ist das Crowdfunding deshalb ein zweischneidiges Schwert. Aus Sicht der Allgemeinheit sei es «inakzeptabel, dass Leute zu solchen Aktivitäten gezwungen werden. Das ist nicht der Weg, wie man an Therapien und Medikamente gelangen sollte.» Viel besser wäre es, wenn der Bund den gesetzlichen Spielraum ausnützen und die Preise für Medikamente senken würde. Aus Sicht der Patientinnen und Patienten sei Crowdfunding hingegen ein Weg, den man unterstützen müsse, meint Romanens: «Bei vielen geht es um Leben und Tod.»
Jedenfalls, so schränkt Ethiker Romanens ein, solange die Behandlung wirksam und sinnvoll sei. Und genau hier liegt für ihn und andere Kritiker ein Haken beim Crowdfunding: «Verzweifelte Menschen sind beliebte Opfer. Die Gefahr besteht, dass man mit Spendenaktionen vermehrt unwirksame oder gar gefährliche Therapien ermöglicht.»
Das ist auch für Martina Ziegerer ein Grund, warum sie dem medizinischen Crowdfunding eher skeptisch gegenübersteht. Ziegerer ist Geschäftsleiterin der Zewo, die in der Schweiz gemeinnützige Hilfswerke zertifiziert. Sie spricht von einem «Geschäft mit der Angst». Zwar könne eine Spende das individuelle Leid vermindern – aber das grundsätzliche Problem löse ein Spender damit nicht. Und: «In vielen Fällen stellt sich die Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, jemandem direkt Geld zu spenden, oder ob der Person nicht auf andere Art nachhaltiger geholfen werden könnte.»
Etwa die Eltern, die sich die Fahrt mit ihrem Baby ins Krankenhaus nicht leisten können: Bräuchten sie nicht viel eher eine Budgetberatung? Oder der Krebskranke im Endstadium: Ist ihm geholfen, wenn ihm seine Angehörigen mithilfe von Spendern noch jede erdenkliche Behandlung finanzieren?
Das können Hilfswerke mit ihren Fachleuten in Gesprächen mit den Betroffenen beurteilen, potenzielle Spender hingegen kaum. Und genau das ist für Burkhard Wilke das Hauptproblem. Er ist wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen, das sich auf die Beratung von Spendern spezialisiert hat. Wilke sagt: «Crowd-funding stellt vermeintlich einen direkten Draht zwischen dem Spender und dem Bedürftigen her, ohne Umweg über eine Hilfsorganisation.» Doch das sei ein Irrtum. Nur schon der Glaube, das Geld komme eins zu eins den Betroffenen zugute, ist falsch. Viele Plattformen kassieren kräftig mit. Leetchi verlangt zwischen 2,9 und 4 Prozent des Ertrags als Gebühr, es gibt aber auch Plattformen, die bis zu 10 Prozent einbehalten.
Aber auch die Nähe zum Betroffenen sei ein Trugbild, so Wilke: «Die Geschichten im Internet erzeugen Mitleid, die Fotos gaukeln Authentizität vor. Aber ich kann als Spender nicht wissen, ob ein Vorhaben seriös ist.» Das sieht auch Martina Ziegerer so. Bei Hilfswerken sei das anders, sagt sie: «Ein zertifiziertes Hilfswerk wird regelmässig kontrolliert, informiert transparent, und man kann als Spender darauf vertrauen, dass das Geld dem angegebenen Zweck zugutekommt.»
Die Macht der Crowd
Leetchi-Sprecherin Heilmann entgegnet, man prüfe alle Sammelanfragen. Bei jenen über mehrere Tausend Euro verlange man Diagnosen oder Rechnungen. Ob eine Behandlung sinnvoll ist, das freilich beurteilt Leetchi nicht. Die Plattform setze auf die «kollektive Intelligenz», so Heilmann: «Crowdfunding basiert auf der Macht und dem Urteilsvermögen der Crowd.» Und: «Spender können uns eine E-Mail schreiben, wenn sie an der Seriosität zweifeln. Wir würden dem sofort nachgehen.»
Kann die Crowd beurteilen, ob ein Aufruf seriös ist? Burkhard Wilke glaubt nicht daran. Im Bereich von Start-ups und Erfindungen hat der Trend zu Crowdfunding längst Betrüger auf den Plan gerufen. Und laut Wilke häufen sich in diesem Bereich Meldungen von enttäuschten Spendern, die Geld in unrealistische Projekte investierten. Im Gesundheitsbereich sind zwar nur wenige unehrliche Sammler aufgeflogen. Aber es gibt sie: In Spanien macht derzeit ein Paar Schlagzeilen, das fast eine Million Euro für seine angeblich schwer kranke Tochter gesammelt hatte – und mit dem Geld ein Luxusleben führte. Wilke weiss auch von einem Betrüger in Deutschland, der Spendern eine Krankheit vorgaukelte.Aber nicht nur für Spender, auch für Sammler ist die Gefahr von Enttäuschungen gross. So fliesst das Geld nicht einfach, sobald der Kranke sein Profil eingerichtet hat. Viele Sammler erreichen den angestrebten Ertrag nicht einmal ansatzweise. Erfolg, sagt Leetchi-Sprecherin Anastasia Heilmann, habe fast nur, wer sein Anliegen breit streue. Noch wirkungsvoller sei es, wenn die Presse eine Geschichte aufnehme.
Dazu gehört eine beträchtliche Portion Selbstentblössung. Ganze Krankengeschichten werden so für jeden einsehbar, nicht selten geschmückt mit Fotos, die in ihrer Intimität verstörend wirken. «Kein Hilfswerk würde derart mit dem Leid von Kranken hausieren», sagt Martina Ziegerer. Manche Sammler erhalten verächtliche Kommentare statt Geld. So eine Lipödem-Betroffene, der jemand schrieb, sie solle halt weniger essen. Die Familie des jungen Mannes, der aus Thailand zurückgeführt werden soll, bekam zu lesen, der Verunfallte sei selbst schuld, wenn er keine genügende Versicherung abschliesse. Kaum absehbar ist, wie es sich etwa auf eine künftige Stellensuche auswirkt, wenn der Bewerber zuvor seine Krankheitsgeschichte samt Spendenaufruf online gestellt hat.
«Keine andere Option»
Viele der Bedenken und Zweifel, die Kritiker am Crowdfunding äussern, hat auch das Ehepaar Müller diskutiert, bevor es den Spendenaufruf auf Leetchi platzierte. Was Müllers umtrieb, war weniger die Furcht vor einer Behandlung im fernen Moskau, die zwar sehr wirksam ist, aber in 0,5 Prozent der Fälle zum Tod führt. Beide sagen bestimmt: «Wir haben mehr Angst davor, der MS ihren Lauf zu lassen.»
Aber Andrea Müller, die nicht einmal ihren Freunden von ihrer Krankheit erzählt hatte, bis sich die Symptome kaum mehr verheimlichen liessen, kämpfte mit der Vorstellung, nun ihr Leid öffentlich auszubreiten und noch dazu um Geld zu bitten. «Man sagt nicht einfach, juhu, das mache ich jetzt», erzählt Andrea Müller. Aber letzten Endes, sagt sie, habe sie gar keine Wahl: «Ich habe keine Zeit mehr.» Ihre MS schreitet so schnell fort, dass es für die Therapie schon in einem Jahr zu spät sein könnte.
Und doch zweifelt Andrea Müller selbst dann noch, als der Aufruf schon platziert ist. Was, wenn sie nur einem Hoffnungstraum aufgesessen ist? Wenn statt der erhofften 50'000 nur 500 Euro zusammenkommen? Würden Unbekannte überhaupt für sie spenden? «Ich konnte mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, dass es solche Leute gibt», sagt sie. Aber sie hat Glück. Freunde verbreiten ihren Aufruf weiter, «20 Minuten» bringt einen kleinen Artikel. Inzwischen ist schon mehr als die Hälfte des benötigten Geldes zusammengekommen.
Und wenn Andrea Müller am Ende doch nicht nach Moskau fliegen könnte? Anders als viele andere Sammler kommuniziert Müller klar, was dann mit dem Geld passiert: Sie werde es den Médecins sans Frontières überweisen.
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