Wenn Sterbewillige ihre Organe spenden
Ärzte diskutieren über die Organspende nach dem begleiteten Freitod. Sie wäre in der Schweiz erlaubt, praktiziert wird sie aber nicht.

Fritz Egger glaubt sich auf heiklem Terrain und möchte deshalb nicht unter seinem richtigen Namen genannt werden. Er schlägt vor, dass wer eine Freitodbegleitung in Anspruch nimmt, künftig auch seine Organe spenden kann. «Das ist ein Tabuthema», sagt der 78-Jährige, der sich zuvor in einem Brief an Redaktion Tamedia gewandt hatte. «Wenn ich es aber anderen erzähle, finden die, dass dies gar keine so dumme Idee sei.»
So abwegig ist der Vorschlag von Fritz Egger tatsächlich nicht. In Belgien wurde im Jahr 2005 erstmals eine Organspende nach aktiver Sterbehilfe durchgeführt, in den Niederlanden im Jahr 2012. Seither dürften in den beiden Ländern insgesamt über 60 Personen auf diese Weise ihre Organe zur Verfügung gestellt haben. Die Zahl könnte aber viel höher liegen. Davon gehen Mediziner um Jan Bollen von der Universität Maastricht aus. Im «Journal of the American Medical Association» haben sie unlängst mit Daten aus Belgien vorgerechnet, dass rund zehn Prozent aller Patienten, die aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen, auch für eine Organspende infrage kämen.
Das Potenzial wäre beträchtlich
Konkret waren im Jahr 2015 in Belgien bei 200 Betroffenen die medizinischen Voraussetzungen für eine Organtransplantation erfüllt. Insgesamt hätten 684 Organe potenziell gespendet werden können, am häufigsten Nieren (400), gefolgt von Lungen (179), Lebern (75) und Bauchspeicheldrüsen (30). Ausgeschlossen haben die Mediziner Organe aufgrund von Krankheiten oder wenn ein bestimmtes Alter überschritten war (bei der Leber 60 Jahre, bei der Bauchspeicheldrüse 50 Jahre). Die Herztransplantation fällt bei dieser Art der Organspende vollständig weg, weil die Mediziner warten müssen, bis der Tod durch einen Herzstillstand eingetreten ist. Das Organ wird dadurch zu stark geschädigt, um verpflanzt zu werden.
In der Schweiz ist die aktive Sterbehilfe im Gegensatz zu Belgien und den Niederlanden nicht erlaubt. Zugelassen ist jedoch die Freitodbegleitung, auch assistierter Suizid genannt. Den Sterbewilligen wird dabei ein todbringendes Medikament bereitgestellt, dass sie selber einnehmen. «Es gibt kein Gesetz und auch keine Richtlinie, welche die Spende nach begleitetem Suizid verbieten würden», sagt Jürg Steiger, Chefarzt für Nephrologie und Transplantationsimmunologie am Universitätsspital Basel. Der Mediziner ist Präsident der zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) und war federführend bei der Ausarbeitung der Richtlinien zur Todesfeststellung.
Grafik: Mehr Freitodbegleitungen, gleichbleibende Spenderzahlen

Obwohl nicht verboten, wurde eine solche Organtransplantation hierzulande noch nie vorgenommen. Doch das Potenzial wäre beträchtlich. Im Jahr 2014 nahmen gemäss aktueller Statistik des Bundes 740 Personen eine Freitodbegleitung in Anspruch. Überträgt man die niederländisch-belgische Studie auf die Schweiz, kämen geschätzte 74 Personen als potenzielle Spender infrage. Zum Vergleich: Im gleichen Jahr spendeten hierzulande 117 verstorbene Personen ihre Organe. Für die Studienautoren um Bollen ist klar: Auch wenn nur ein kleiner Prozentsatz der potenziellen Spender ein Organ tatsächlich zur Verfügung stellen würde, «könnte dies helfen, die Wartelisten der Organempfänger zu verkürzen».
Das sind Rechenspiele mit nackten Zahlen, welche die schweren Schicksale der Betroffenen übergehen. Trotzdem, dem Wunsch einer Organspende nach Freitodbegleitung begegnen die involvierten Organisationen in der Schweiz tatsächlich immer wieder. Bei Swisstransplant, der nationalen Stiftung für Organspende und Transplantation, gebe es «dann und wann» solche Anfragen, sagt Direktor Franz Immer. «Wir verweisen diese Menschen auf die Möglichkeit einer Nierenlebendspende.» Auch bei Exit, der grössten Schweizer Sterbehilfeorganisation, äussern Sterbewillige den Wunsch, Organe zu spenden – wenn offenbar auch nur selten.
Oft wäre es zu spät
Würde die Sterbehilfeorganisation es begrüssen, wenn eine Organspende nach Freitodbegleitung in der Schweiz möglich wäre? «Diese Frage stellt sich für Exit derzeit nicht», schreibt Jürg Wiler vom Vorstand. Da es sich bei jeder Freitodbegleitung aus rechtlicher Sicht um einen «aussergewöhnlichen Todesfall» handle, komme es gleich anschliessend jeweils zu einer polizeilichen Untersuchung, die in der Regel mehrere Stunden dauere. «Danach wäre es für eine Organtransplantation zu spät», so Wiler.
Der andere wichtige Grund, wieso in der Schweiz diese Art der Organspende noch nie durchgeführt wurde: Praktisch keine grossen Schweizer Spitäler führen bei sich Freitodbegleitungen durch. Dies wäre jedoch notwendig, damit nach dem Tod die Organe genügend schnell entnommen werden können. «Wenn dies nicht innerhalb von Minuten geschieht, sind die Schäden zu gross für eine Transplantation», sagt Christoph Haberthür, Chefarzt Intensivmedizin an der Klinik Hirslanden und Vizepräsident des Stiftungsrats von Swisstransplant. «Wenn jedoch ein grosses Spital den begleiteten Suizid anbieten würde, spräche aus meiner Sicht ethisch und rechtlich nichts gegen eine Organtransplantation», sagt der Mediziner.
Diskussionen bei der Akademie
«Wenn der Entscheid zum begleiteten Suizid frei und korrekt gefällt wurde und ein Spenderwunsch besteht, sehe ich keine ethischen Einwände für eine Organspende», sagt Jürg Steiger. Er betont jedoch, dass die aktuellen SAMW-Richtlinien die Suizidhilfe nur im Einzelfall und bei Patienten am Lebensende für Ärzte als ethisch vertretbar erachten. «Wir sollten dies bei der SAMW im Zusammenhang mit der Organspende aber neu diskutieren», sagt Steiger. Dabei könnte man sich auf einen Leitfaden stützen, den Jan Bollen und Kollegen unlängst verfasst haben, und der ethische, rechtliche und vor allem praktische Fragen adressiert. Denn auch in Belgien und den Niederlanden sind die Zahlen bislang noch nicht so hoch, wie sie sein könnten. Dies, obwohl die Organspende nach aktiver Sterbehilfe bereits seit dem Jahr 2002 eigentlich erlaubt wäre.
Verschiedene Gründe sind dafür verantwortlich: «Die Organspende nach aktiver Sterbehilfe wird von Ärzten und Gesetzgebern nicht aktiv gefördert», schreibt Jan Bollen auf Anfrage. Die Patienten müssen selber auf diese Möglichkeit kommen und sie vorbringen. Es braucht bei ihnen zudem die Bereitschaft, nötige Vorabklärungen über sich ergehen zu lassen und im Spital zu sterben. Dort bleibt für die Angehörigen dann jedoch kaum Zeit, Abschied zu nehmen, weil die Organentnahme bereits rund zehn Minuten nach dem Kreislaufstillstand beginnen müsste. «Die Mehrheit der Patienten, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen, möchte zu Hause im Kreise der Angehörigen und Freunde sterben», so Bollen. Für ihn und seine Kollegen bleibt das wichtigste Ziel, «Patienten, die nach ihrem Tod mit einer Organspende anderen helfen möchten, diesen letzten Willen zu erfüllen».
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