
Das Ausmass und der Verlauf der Proteste vom Sonntag dürften nicht nur den Kreml überrascht haben, sondern auch die Organisatoren. Seit den Demonstrationen gegen Wahlfälschungen und den Ämtertausch von Wladimir Putin und Dmitri Medwedew vor fünf Jahren sind in Russland nicht mehr so viele Menschen auf die Strasse gegangen. Zehntausende waren es zweifellos, Kreml-kritische Medien schätzen die Zahl auf über 60 000. Mehr als 1000 wurden festgenommen.
Anders als im Winter 2011/12 beschränkten sich die Aktionen nicht auf die grossen Zentren Moskau und Sankt Petersburg. An fast 100 Orten zwischen Ostsee und Japanischem Meer trafen sich Bürger, um ihrem Ärger über die Korruption Luft zu machen, die sich von der Staatsspitze aus durch alle Institutionen zieht. In manchen Kleinstädten kam nur eine Hand- voll – in grösseren kamen einige Tausend.
Der Erfolg für den Oppositionellen Alexei Nawalny kam aus mehreren Gründen unerwartet. Was seine Recherchen über den geheimen Reichtum des Ministerpräsidenten Medwedew zutage gefördert hatten, war zwar haarsträubend, aber ähnlich haarsträubende Enthüllungen hatte es auch schon über etliche Minister, Putin-nahe Geschäftsleute und hohe Justizbeamte gegeben. Statt Empörung hervorzurufen, schien jeder neue Vorwurf Nawalnys nur noch Resignation und Fatalismus zu nähren. Oft hört man sogar die Haltung: lieber die korrupte Elite, die wir kennen, als eine neue, die sich die Taschen erst noch füllen muss.
Aktiv gegen Festnahmen
Die letzten Male, als Nawalny zu Demonstrationen aufgerufen hatte, waren ihm nur wenige Tausend Moskauer gefolgt. Diesmal aber waren die Strassen voll, obwohl die Behörden die Demonstration in Moskau und auch die meisten anderen nicht genehmigt hatten. Die Teilnehmer wehrten sich aktiv gegen Festnahmen und versuchten, bereits Festgenommene wieder freizubekommen.
Es schien, als wäre mit einem Mal die Angst verflogen, die die Bürger seit den Unruhen vom 6. Mai 2012 lähmte. Am Tag vor Putins dritter Amtseinführung im Kreml war es zu Zusammenstössen zwischen Polizisten und Demonstranten gekommen. In einer Serie von Prozessen wurden seitdem mehr als 30 Männer und Frauen wegen Aufrufs zu Massenunruhen und Gewalt gegen Polizeibeamte verurteilt, teils zu mehreren Jahren Straflager.
Die Ereignisse vom Sonntag haben gezeigt, dass diese Einschüchterung ihre Wirkung verloren hat.
Seit den 90er-Jahren messen die Soziologen des unabhängigen Lewada-Instituts das Protestpotenzial in der russischen Gesellschaft. Nie waren die Werte so lange so niedrig wie seit der Krim-Annexion. Bei der letzten Erhebung im November erklärte gerade mal einer von zehn seine Bereitschaft, sich an politischen Kundgebungen zu beteiligen. Die 86-Prozent-Mehrheit für Wladimir Putin schien unerschütterlich.
Nur Volljährige befragt
Jetzt stellt sich heraus, dass die Statistiken einen blinden Fleck haben: Es wurden nur Volljährige befragt. Überraschend viele Teilnehmer der Proteste am Sonntag waren aber Schüler und Studenten. Eltern mussten 15-Jährige vom Revier abholen. Die Generation, die seit ihrer Geburt nur ein Russland unter Putin kennt, sieht es nicht als naturgegeben an, dass eine korrupte Elite ihnen die Zukunft stiehlt. Weil sie bei der letzten Protestwelle noch Kinder waren, kennen sie Repressionen noch nicht aus eigener Erfahrung. Möglich, dass sich das jetzt ändert.
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Wer hat noch Angst vor Putin?
Die Generation, die seit ihrer Geburt nur ein Russland unter Putin kennt, begehrt gegen die korrupte Elite auf.