Wer war Hans Fallada?
In «Kleiner Mann – was nun?» porträtierte er 1932 den deutschen Kleinbürger, pünktlich zum Aufstieg der Nazis. Eine neue Biografie zeichnet das Bild eines zerrissenen Mannes.

Im Oktober 1911 schossen der Gymnasiast Rudolf Ditzen und sein Freund Hanns Dietrich von Necker aufeinander, als würden sie sich duellieren. Der erste Schuss ging vorbei, ein zweiter traf von Necker. Dann schoss sich Ditzen zweimal in die Brust, kam wieder zu Bewusstsein, rief um Hilfe und überlebte. Später würde er seine Bücher unter dem Pseudonym Hans Fallada veröffentlichen. Der Freund starb. Der als Duell getarnte Versuch eines Doppelselbstmords passte in die Zeit. Schuldruck und die Nöte des Heranwachsens waren beliebte literarische Sujets, 100 Jahre nach dem dramatisch inszenierten Ende Heinrich von Kleists und Henriette Vogels.
1911 wurden die Mitschüler befragt, was sie über Rudolf Ditzen wüssten. Der habe behauptet, gab einer zu Protokoll, dass es keine Charaktere gebe; «der Mensch könne heute so, morgen so sein». Entsprechend zerfiel auch Falladas Leben in viele widersprüchliche Rollen. Nur zwei ständige Begleiter gab es: die Sucht und das Schreiben, die Schreibsucht. Sie begann in der Schule, sein erster Roman, «Der junge Goedeschall», erschien 1920. Seinen letzten schrieb er 1946 in knapp vier Wochen.
In Grösse gescheitert
Dem Morphium und dem Alkohol entkam Fallada immer nur auf Zeit, und nie den Zigaretten – 120 waren es am Tag und mehr. Er war, schreibt sein Biograf Peter Walther, ein disziplinierter Arbeiter, respektierter Landwirt, liebender Familienvater, sorgender Hausvorstand. Und er war ein von Dämonen bedrängter Künstler, Frauenheld, politischer Opportunist, Tobsüchtiger: «Fallada ist am Leben mit einer Grösse gescheitert, wie nur wenige sie aufbringen, die es mit Erfolg bewältigen.»
In den letzten Jahren ist Fallada neu entdeckt worden. «Jeder stirbt für sich allein» wurde ein Erfolgsbuch in den USA, Grossbritannien und Israel. In Deutschland erschienen ungekürzte Romanfassungen sowie eine Fülle biografischen Materials: Krankenakten, Briefe, das Gefängnistagebuch von 1944. Der Germanist Peter Walther hat dazu die rund 8000 Briefe im Fallada-Archiv gesichtet, und er hat die Korrespondenz mit Siegfried Kracauer ausgewertet, der die Angestellten-Welt soziologisch beschrieb, bevor Fallada sie in «Kleiner Mann – was nun?» literarisch gestaltete – die Hoffnungen auf Sicherheit wie auch die Erfahrungen des Abstiegs.
So detailreich sind die Aufschwünge und Abstürze Falladas, sind die Begleitumstände seines Werks bisher nicht geschildert worden. Das ermüdet gegen Ende dieser Biografie etwas: schon wieder ein verzweifelter Klinikaufenthalt, den der Autor bald abbricht, schon wieder eine Frauengeschichte. Aber Walther überzeugt mit wissender Zurückhaltung. Er erklärt, ohne zu belehren, erzählt behutsam, ohne dramatisierende Tricks und Einfühlungskitsch, im historischen Präsens.
Den Vater porträtiert
1929 war das entscheidende Jahr. Der 35-jährige Fallada, der eine Haftstrafe wegen Unterschlagungen verbüsst hatte, führte im überschaubaren Neumünster ein halbwegs geregeltes Leben als Annoncen- und Abonnentenwerber. Im April heiratete er sein «Lämmchen», Anna Issel. Eine Zufallsbegegnung mit seinem Verleger Ernst Rowohlt brachte ihn zurück ins Literarische, aber diesmal bespiegelte er sich nicht selbst, sondern fand mit «Bauern, Bonzen und Bomben» zu einem scharf beobachteten, in Dialogen voranschreitenden, effektsicheren Erzählen. Der Roman wurde ein Erfolg, vorab bei der Kritik.
1932 gelang der Durchbruch mit «Kleiner Mann – was nun?». Fallada wurde prominent, die Einnahmen sprudelten, er konnte seine Schulden tilgen. Die kleinen Leute fühlten sich verstanden, er war der Autor der Stunde. Dabei war er aus guten Verhältnissen, geboren als Sohn eines zielstrebigen Landrichters, der sich vorgenommen hatte, am Reichsgericht zu arbeiten, und 1909 dann Reichsgerichtsrat wurde. Doch der Sohn, das dritte Kind, bereitete früh Schwierigkeiten und offenbarte eine überspannte Fantasie, die sich um die Grenzen zwischen Dichtung und Wirklichkeit nicht scherte. Er spann Pennälerintrigen, kokettierte mit dem Dandytum, fasste eine Aversion gegen die Eltern, die sich nicht zu helfen wussten.
Kurzschlüsse zwischen Leben und Werk stimmen skeptisch.
Was hatten sie falsch gemacht? Kurzschlüsse zwischen Leben und Werk stimmen skeptisch. Aber es überzeugt, wenn Peter Walther in der Figur des Kammergerichtsrats Fromm aus «Jeder stirbt für sich allein» Züge von Vater Ditzen erkennt. Fromm tut das Richtige, er versteckt eine jüdische Nachbarin in seiner Wohnung und gibt ihr die Anweisung, ihr Zimmer nie zu verlassen. Er hilft, aber verweigert Zuwendung. Die «Kälte, mit der das menschlich Gebotene umgesetzt wird, die rein juristische Grundierung von Güte»: Genau das, argumentiert Walther, habe der junge Fallada auch seinem Vater vorgeworfen.
Die Eltern liessen den problematischen Sohn nicht im Stich. Die Mordanklage nach dem versuchten Doppelsuizid wurde wegen Unzurechnungsfähigkeit fallen gelassen. Rudolf Ditzen kam in eine Nervenheilanstalt, wurde dann Gutseleve – und wahrscheinlich ab Sommer 1917 Morphinist mit all den Beschaffungs- und Entzugsproblemen.
Die Detailversessenheit dieser Biografie bewährt sich vor allem da, wo es um Hans Falladas Existenz im Dritten Reich geht. Er war ein Erfolgsautor der Weimarer Republik, mit Sympathien für die linken Kräfte. Im April 1933 wurde er von der SA verhaftet. Sein Vermieter hatte ihn denunziert, um Schulden loszuwerden; Fallada hatte einen Teil der Hypotheken des Denunzianten erworben. Er kam davon, kaufte bald ein Anwesen in Carwitz, wurde Landwirt, blieb Schriftsteller – auch in Deutschland, trotz Angriffen der Presse.
Für die Zensur geschrieben
Wie Anpassung vor sich geht, wo die Grenzen des Mitlaufens liegen und wie diese doch überschritten werden: Das alles lässt sich an Fallada nachvollziehen. Er schrieb wie besessen, verdiente prächtig, wurde schikaniert, schrieb weiter. Als Sonderführer des Reichsarbeitsdienstes fuhr Fallada 1943 nach Frankreich, seine Briefe und Aufzeichnungen verraten die Sucht nach offizieller Anerkennung, die Bereitschaft, sich das Gesehene zurechtzulügen, dem alltäglichen Konformitätsdruck nachzugeben: «Ich habe diese Nacht diese Jungens auf den Fliegerhorsten mit erlebt ... das alles kann nicht umsonst sein, wir sind die Herren der Welt, bestimmt Europas. Nur ein bisschen mehr Zeit und Geduld.»
Das habe er für die Zensur geschrieben, sagte er nach dem Krieg. Aber er hatte im Auftrag des Propagandaministeriums auch Material für einen Roman über den Fall Kutisker gesammelt, einen Skandal der Zwanzigerjahre. Er schrieb bis 1945 am Buch, vom Manuskript ist nichts überliefert. Der Lektor des Heyne-Verlags war von den ersten Passagen begeistert. Gelungen sei es, «einen nicht antisemitischen antisemitischen Roman» zu schreiben. Das meinte: nicht aufdringlich, nicht propagandistisch.
Dieser Autor eines der grossen antifaschistischen Romane war zugleich empfänglich für antisemitische Phrasen.
Sucht und Ehekrisen hielten ihn weiter im Griff. Einmal schoss er in Richtung seiner Frau, wurde verhaftet. Im Gefängnis schrieb er besessen, schrieb sich den Hass auf den Nationalsozialismus von der Seele. Es sei «das hervorstechende Merkmal der Nationalsozialisten», notierte er, «mit den Menschen wie mit Schlachtvieh umzugehen». Aber er schrieb auch über die «Blutverschiedenheit», welche die Juden selbst fühlen würden. Dieser Autor eines der grossen antifaschistischen Romane war zugleich empfänglich für antisemitische Phrasen und Bilder.
Hans Fallada spürte, dass er zu sehr nach Geld und Erfolg geschielt hatte. Er wusste, dass er seine Frau kränkte, und liess sich einer Jüngeren wegen scheiden. Sein Biograf folgt ihm bis in die letzten Abstürze. Der Autorenkollege Johannes R. Becher, der ihm am Ende half, wo es ging, sagte: Fallada habe gelebt «in der Fülle seiner Geschichte». Die Literaturgeschichte spricht von einer «neuen Sachlichkeit».
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