
Der Opernbesuch fällt ins Wasser. Das Schauspielhaus macht dicht. Und das Kunsthaus stellt alles ein und nichts mehr aus. Ein Schock für alle, die es gewohnt sind, Kulturanlässe zu besuchen. Dort bewegt man sich unter gebildeten Leuten, die beim Small Talk ihre Kenntnisse aufblitzen lassen. Wissend wird auch dann genickt, wenn unklar ist, worum es geht.
Man fühlt sich aufgehoben in einer Welt, die eigene Gesetze kennt und zu der nicht jede und jeder Zutritt hat. Und sollte sich doch mal jemand in diese gehobenen Kreise verirren, fällt er schnell auf. Denn die «feinen Unterschiede», die der Soziologe Pierre Bourdieu detailliert beschrieben hat, trennen die Menschen in klar voneinander geschiedene kulturelle Sphären.
Das Coronavirus, das das Kulturleben zum Erliegen bringt, stürzt kunstaffine Zirkel in eine Sinnkrise. Da es keine Möglichkeit mehr gibt, sich mit glänzenden Ereignissen zu umgeben, werden sie auf sich selbst zurückgeworfen – und mit der Frage konfrontiert: Wie viel von der Kultur, mit der ich mich fast täglich befasse, ist wirklich Teil von mir selbst, und was ist bloss Hülle? Was – ausser der Eintrittskarte – trage ich selbst bei? Oder bin ich nur ein Parasit ohne eigene kulturelle Identität?

Das Zurückgeworfen-Sein auf sich selbst wirft existenzielle Fragen auf: Da die Kulturindustrie mit ihren Ritualen bisher tadellos funktioniert hat, musste man sich nicht darüber unterhalten, worin das kulturelle Selbst – und Selbstverständnis – jenseits der öffentlichen Auftritte, Aufführungen und Events besteht. Denn wie der Philosoph Theodor W. Adorno kritisch anmerkte, dient Kultur in der kapitalistischen Verwertungsindustrie immer auch der Zerstreuung und Ablenkung.
Was sich wie eine Erhöhung der eigenen Person und des sozialen Status anfühlt (und auch so aussehen soll), kann eine Nivellierung, mitunter gar Abwertung des Originellen und Originären sein. Als das Lesen im 18. Jahrhundert als massentaugliches Phänomen in Europa aufkam, gab es zahlreiche Stimmen, die vor dieser Kulturtechnik warnten mit der Begründung: Die Beschäftigung mit den Schicksalen anderer Leute, die in den Romanen erzählt werden, lenke bloss von den eigenen Bedürfnissen und Themen ab.

Die globale Krise, in der wir uns befinden, kann als lokale Chance gesehen werden. Anstatt weiterhin wie ein Mitesser an den Schöpfungen anderer teilzuhaben und die Energie in passive Kontemplation fliessen zu lassen, kann man nun selbst zur Kreation schreiten. Die wiedergefundene Zeit könnte der kulturell zerstreute Zeitgenosse einsetzen, um auf die Suche nach seinen eigenen schöpferischen Quellen zu gehen. Denn häufig versiegen diese, ohne je entdeckt zu werden. Wenn ich mehr über meine eigene Kreativität in Erfahrung bringe, weiss ich auch, was mir die der anderen bedeutet.
Wir neigen dazu, solch existenzielle Fragen, die sich in diesen Tagen aufdrängen, zu verdrängen. Natürlich gibt es auch Menschen, die sich von Schöpfungen anderer zu eigener Kreativität anregen lassen. Doch wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass ein wesentlicher Teil dessen, was wir unter Kultur verstehen, vom Eigentlichen wegführt. Das ist nichts Verwerfliches, sondern auch etwas Wohltuendes. Aber sollte uns die kulturelle Auseinandersetzung nicht näher zu uns selbst führen?
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Werden wir kreativ!
Oper, Theater, Museum: alles zu. Kulturell sind wir auf uns selbst zurückgeworfen. Gut so.