Weshalb er die deutsche Grenze offen liess
Ex-Innenminister Thomas de Maizière erklärt erstmals, warum er im Spätsommer 2015 den Flüchtlingsansturm nicht gestoppt hat.

Über den 13. September 2015 kursieren bereits viele Legenden. Demnach lagen an jenem Sonntag bereits die Befehle vor, um die bayerisch-österreichische Grenze zu schliessen.
Tausende von Bundespolizisten standen zu diesem Zweck bereit, rechtliche Gutachten legitimierten den Schritt. Die Chefs aller Sicherheitsbehörden, von der Bundespolizei über das Kriminalamt bis zu den Geheimdiensten, drängten Innenminister Thomas de Maizière, endlich durchzugreifen. Um 14 Uhr war der Christdemokrat noch dafür. Nach mehreren Telefonaten mit Kanzlerin Angela Merkel war er um 17.30 Uhr dagegen. Grenzkontrollen ja, Zurückweisung von Flüchtlingen nein. Merkel, so die Legende, hatte sich gegen de Maizière durchgesetzt.
Juristisch umstritten
Drei Jahre lang hat sich de Maizière dieser Erzählung nicht entgegengestellt. Nun, ein Jahr nach seinem Abgang als Innenminister, erklärt er in einem Kapitel seines Buchs «Regieren» erstmals seine Sicht. Er widerspricht dabei sowohl den Kritikern von Merkels Flüchtlingspolitik als auch jenen, die in ihm einen Helden sehen wollen, der sich «leider vergeblich» gegen die Kanzlerin aufgelehnt habe.
Merkel und er hätten Anfang September keineswegs die Grenzen «geöffnet», beginnt de Maizière. Die Grenzen seien vielmehr längst offen gewesen. Schon im August seien wöchentlich Zehntausende Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, Hunderttausende seien längst auf der Balkanroute unterwegs gewesen. Der Wunsch, die Flüchtlinge unkontrolliert ins Land zu lassen und schnell zu verteilen, sei nicht von Berlin ausgegangen, sondern vor allem von den bayerischen Grenzgemeinden, deren CSU-Vorsteher nichts mehr gefürchtet hätten als grosse Flüchtlingslager direkt vor ihrer Haustür.
Am Tag, als Deutschland die Grenzkontrollen offiziell wieder aufnahm, dem 13. September 2015, sei das Vorhaben juristisch umstritten gewesen. Es seien ihm Gutachten vorgelegen, die es als möglich oder gar als zwingend erachteten, die Flüchtlinge an der nationalen Grenze zurückzuweisen. Die Mehrheit seiner Juristen sei jedoch der Meinung gewesen, dass das europäische Recht eine Zurückweisung ohne Prüfung der Asylansprüche verbiete. Weil die Lage rechtlich uneindeutig gewesen sei, habe er schliesslich politisch gegen die Schliessung entschieden.

Horst Seehofer, der damalige CSU-Chef, bayerische Ministerpräsident und heutige Nachfolger de Maizières als Innenminister, verurteilte diese Politik als «Herrschaft des Unrechts». Wer de Maizières preussisches Pflichtgefühl kennt, kann sich vorstellen, dass ihn kein Vorwurf mehr verletzt haben dürfte als dieser. Entsprechend vehement widerspricht er nun Seehofer, pikanterweise ohne diesen beim Namen zu nennen: «Wenn sich ein Minister nach langen Diskussionen einer Rechtsauffassung anschliesst und eine Entscheidung trifft, die er für rechtmässig hält, die im Nachhinein aber manchen nicht gefällt, dann ist der Vorwurf eines Rechtsbruchs ehrabschneidend.»
«Hässliche Bilder»
De Maizière erklärt ausführlich, warum er die Grenzen nicht schloss. Die «hässlichen» Bilder, wie deutsche Polizisten mit Schutzschildern, Gummiknüppeln und Tränengas Kriegsflüchtlinge am Übertritt der Grenze hindern, hätte das damals sehr hilfsbegeisterte Land nicht ertragen, meint er. Auch die Erwartung, die Flüchtlinge hätten danach einfach kehrtgemacht, sei völlig weltfremd gewesen. Vielmehr hätten sich direkt an der Grenze riesige wilde Flüchtlingslager gebildet.
«Ich war überzeugt davon, dass wir nach wenigen Tagen angesichts dieser Bilder aufgegeben und die Grenzkontrollen so durchgeführt hätten, wie wir sie von Beginn an durchgeführt haben», schreibt de Maizière. «Das allerdings wäre dann eine grosse Niederlage des Rechtsstaats und des polizeilichen Handelns gewesen. (. . .) Wenn man etwas entscheidet, muss man dessen Folgen auch durchhalten. Sonst unterlässt man die Entscheidung lieber.»
Dass er dem Andrang der Flüchtlinge skeptischer gegenüberstand als andere, verhehlt er nicht. «Wir haben uns alle zu sehr mitreissen lassen», bilanzierte er gegenüber der «Bild»-Zeitung die Stimmungen während der Krise und meinte damit die anfängliche Euphorie genauso wie den hysterischen Umschwung nach den Silvesterübergriffen von Köln.
De Maizières Erklärungen lösten heftige Reaktionen aus. Seehofer verurteilte dessen Kritik sofort als «objektiv falsch», obwohl er noch keine Zeile im Buch gelesen hatte. Bayerische Lokalpolitiker empörten sich über die Schuldzuweisung: Während aus Berlin nur warme Worte gekommen seien, hätten sie an der Grenze eben handeln müssen.
Kritiker von Merkels Flüchtlingspolitik sehen in de Maizières Erklärungen einen weiteren Beleg für «gigantisches Staatsversagen» und «illegale Massenmigration». Merkels Unterstützer hingegen beklagten, dass de Maizière der Behauptung von der «Herrschaft des Unrechts» erst jetzt widerspreche, da sie sich in rechtspopulistischen Kreisen durchgesetzt habe.
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