
Frauen gehen aus den unterschiedlichsten Gründen fremd: weil sie aus ihrer Beziehung raus- oder weil sie drinbleiben wollen. Bei manchen ist es ein Unfall, ein schwacher Moment, bei anderen ein Konzept. Manchmal wollen sie bloss Sex, aber manchmal geht es genauso sehr um Gefühle, Gefallsucht, Narzissmus, das Bedürfnis, sich selbst zu spüren, dem anderen etwas mitzuteilen, weil sie den Mut nicht finden, es zu sagen.
Sex kann ein ekstatischer Rausch sein, aber immer auch geht es um das tiefe Bedürfnis, sich mit jemandem und damit mit der Welt zu verbinden. Mit allem, was man dabei in Kauf nehmen muss, andere zu verletzen. Wie es die Schriftstellerin Erica Jong in ihrem Buch «Angst vorm Fliegen» ausdrückt: «Ich versuchte, mich von ihm fernzuhalten, indem ich Schlüsselwörter wie ‹Treue› und ‹Fremdgehen› benutzte. Indem ich mir sagte, es würde meine Arbeit behindern, weil ich mit ihm zu glücklich zum Schreiben wäre. Ich versuchte, mir zu sagen, dass ich Bennet verletzen würde, mich selbst verletzen würde, dass ich mich einfach aufspielte. Aber es half alles nichts. Ich war besessen. Von dem Moment an, da er den Raum betrat und mich anlächelte, war es um mich geschehen.»
«Wenn es um Sex geht, führen Frauen ein Doppelleben.»
Frauen gehen genauso fremd, weil sie genauso sexuelle Wesen sind wie Männer. In den Statistiken stehen sie ihnen in puncto Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs, Anzahl der Sexualpartner und sexueller Zufriedenheit kaum nach. In psychologischen Experimenten reagieren Frauen körperlich genauso stark auf sexuelle Inhalte visueller oder narrativer Natur. Und wenn sie beim Fremdgehen nicht in erster Linie das schnelle Abenteuer suchen, so tun sie es genauso – auf ihre Weise. Nur beim Masturbieren und beim Pornokonsum haben die Männer das Heft in der Hand behalten beziehungsweise den Schwanz – immerhin.
Versteht man Sexualität nur als Drang zur körperlichen Triebabfuhr, ist leicht zu sehen, warum wir Männern eher zugestehen, dass sie sich davon steuern lassen. Denn tatsächlich sind Männer eher an rein körperlicher Liebe interessiert, sonst wäre Prostitution nicht das älteste Gewerbe der Welt beziehungsweise gäbe es genauso viele männliche Prostituierte für Frauen wie umgekehrt.
Etwas anders sieht es aus, wenn man unter Sex nicht bloss den Akt versteht, die Berührung von Schleimhäuten oder Penetration, sondern alles, was für Frauen damit zusammenhängt: Romantik, Gefühle, die Lust am Gefallen und an der Ekstase. Subsumiert man diesen ganzen Themenkomplex unter Sex, dann sind Frauen mindestens genauso sexbesessen wie die andere Hälfte der Spezies.
«Frauen gehen genauso fremd, weil sie genauso sexuelle Wesen sind wie Männer.»
So gewaltig das Ausmass sexueller Gedanken bei Männern sein soll und der Druck, der dadurch entsteht – Frauen kennen das auch. Kein Mann dürfte sich vorstellen, wie oft am Tag sie daran denken, mit wem sie wie liiert sind, wie attraktiv sie für wen sind, wie sie noch attraktiver werden und andere dazu bringen können, das zu tun, was sie wollen.
Uns geht es beim Sex selten nur um Sex. Frauen schlafen nicht einfach nur mit Männern. Meiner Meinung nach schlafen sie mit Versprechen. Mit den Erinnerungen, dem Bedauern, der Hoffnung auf Vereinigungen, die noch kommen werden. Viel mehr noch als materielle Ressourcen suchen Frauen in der Sexualität alles andere: Beziehungen, Sicherheiten, Geschichten, Gefühle. Wir warten darauf, dass die echten, die wahren, die wichtigen Dinge passieren. Liebe, Freundschaft, Rausch, Moral, Glück, Leiden, Verrat, Schuld und Unschuld, Erfolg und Scheitern. Wir sehnen uns nach Geschichten, Gefühlen, Schweiss, Körper, Duft, Stimme, Welt. Und Sex ist der schnellste, der direkteste und der verführerischste Weg dorthin.
Männern fällt es angeblich schwer, treu zu sein. Frauen auch. Frauen sind aber eher bereit, ihren Trieb zu verleugnen, weil sie ihn oft gar nicht so genau kennen. Selbst unter Frauen wird nicht wirklich offen über die eigene Lust gesprochen. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie offen Frauen sonst über alles Mögliche reden, wenn sie unter sich sind.
Wenn es um Sex geht, führen Frauen ein Doppelleben. Es mag daran liegen, dass sie weder Eier noch einen Penis zwischen ihren Beinen haben. Es würde keiner in den Sinn kommen, ihrem Geschlechtsteil ein Eigenleben einzuräumen. Zwischen den Beinen der Frauen findet man weniger Stolz als Scham, Schuld und Verleugnung. Und viel Doppelmoral.
«Ein Königsweg, um an Ressourcen zu gelangen und gesellschaftlich voranzukommen.»
Grundsätzlich war Sex schon immer wichtig, ja lebensbestimmend für Frauen. Ein Königsweg, um an Ressourcen zu gelangen und gesellschaftlich voranzukommen. Männer wollen Macht, um Sex zu bekommen, und Frauen wollen Sex, um Macht ausüben zu können. Vielleicht rührt daher die weibliche Neigung, sich auf dieser Ebene gegenseitig zu disziplinieren und zu bekämpfen.
Darin sind sie gut, sie sind Meisterinnen, wenn es darum geht, sozialen Druck aufzubauen, aufrechtzuerhalten und auszuüben. Sie wachen eifrig darüber, wer sich welche Regelverletzungen erlaubt – und sie hantieren virtuos mit Verachtung und gegenseitiger Beschämung.
Ganze Unterhaltungsindustrien leben davon, dass Frauen vorgeführt und beschämt werden, die Skandalmedien sind voll von Geschichten über Frauen, Stars und Sternchen, die gestolpert sind. Manchmal verrutscht nur der Bikini, oder eine Schönheitsoperation geht schief, oder sie werden, huch, ohne Unterwäsche «erwischt». Manchmal aber geraten sie auch in schlechte Gesellschaft oder kommen nicht von einer üblen Beziehung los, nehmen Drogen, betrinken sich, haben Sex mit verschiedenen Männern oder Frauen, und dann erscheinen sie auf einem Sex-Tape.
«Die meisten Frauen kennen die Versuchung zum Regelbruch, zur Grenzüberschreitung – gestehen sie sich aber selten zu.»
Und jeder Nervenzusammenbruch, jeder öffentliche Kontrollverlust ist Futter für die Medien, eine Geschichte, die wir immer und immer wieder hören wollen. «Schau sie dir an, sie hat sich nicht im Griff. Kein Wunder, wenn man so selbstverliebt, provokativ, unsensibel, unklug, promiskuitiv und crazy ist.» Das ist für viele Frauen eine Art Pornografie der Gefühle. Sie konsumieren die Geschichten mit einer Mischung aus Faszination, Gier, Mitleid und Verachtung und kommen mit dem befriedigenden Gefühl zu dem Schluss, dass es ihre Story ist – und nicht die eigene. Dass die so Blossgestellte es vielleicht nicht verdient hat, aber letztendlich doch selbst schuld ist an ihrem Schicksal.
Warum tun Frauen das? Weil die moralische Verurteilung anderer tröstlich ist. Und weil die meisten Frauen die Versuchung zum Regelbruch, zur Grenzüberschreitung kennen – sie sich aber selten zugestehen. Deshalb befriedigt sie der Gedanke, dass andere dafür büssen müssen. Sie nehmen teil an der stilisierten Empörung, um sich von etwas zu distanzieren, von dem sie genau wissen, dass es auch in ihnen stecken könnte. Viele Frauen haben Erfahrung mit psychischen Problemen, Alkohol und Drogen und den unerfreulichen Folgen, die das haben kann. Und es beruhigt sie, dass es auch anderen so geht.
Frei nach Nietzsche könnte man sagen: Schaut man sich eine Schlampe nur lange genug an, erkennt man auch die Schlampe in sich – und bannt sie vielleicht auch. «Wer mit Ungeheuern kämpft, muss zusehen, dass er nicht selbst zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange genug in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.» Kein Wunder, gestehen sich Frauen ihre sexuellen Bedürfnisse fast nie ein. Nicht einmal sich selbst.
Dabei gibt es keinen Grund, sich zu schämen. Frauen werten sich gegenseitig als Schlampen ab, weil sie sich dadurch eine bestimmte soziale Stellung erhoffen, weil andere abzuwerten einen selbst ein bisschen besser macht. Es ist eines der wenigen effizienten Mittel der Machtausübung, und Frauen lernen von klein auf, wie es funktioniert.
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Weshalb Frauen betrügen
Weibliche Lust ist so gross wie die männliche. Wie gross, beschreibt Michèle Binswanger in ihrem neuen Buch. Ein Vorabdruck.